„Lebenschancen besser absichern“ in: Wohlstand, Wachstum, Investitionen: junge Wissenschaft für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt (2012)

Kommentar zu:

  • Sven Rahner und Dr. Martin Bujard: „Lebenslauforientierte Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Familienpolitik als Grundlage für sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt“ und
  • Christian Leschinski, Adam Bock und Stefano Consiglio: „Deutsche Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert: Zu erwartende Herausforderungen und sozialdemokratische Antworten auf Basis grundlegender volkswirtschaftlicher Konzepte“

Ich habe mich sehr gefreut, als ich die beiden Papiere gelesen habe. Auf diesem Kongress wurde zunächst darüber gesprochen, was auch die Enquete-Kommission über Wachstum, Wohlstand und Lebensqualität diskutiert. Gleichzeitig gibt es in diesem Panel, in dem die Papiere diskutiert werden, einen konzeptionellen Ansatz. Erfreulich ist außerdem, dass die Ebert-Stiftung dafür gesorgt hat, dass ältere Semester aus Wirtschaft und Politik auf junge Wissenschaftler treffen. Für eine sozialdemokratische Perspektive ist das deshalb wichtig, weil in ökonomischen, wissenschaftlichen Zusammenhängen nicht nur ein einseitiger Zeitgeist herrschen sollte. Man muss auch Alternativen aufzeigen. Das ist das, was beides miteinander verbindet.

Als jemand, der das Hamburger Grundsatzprogramm der SPD mitverantwortet hat, fand ich im Einzelnen beim Papier von Rahner und Bujard vieles wieder, was sozialdemokratische Programmatik ausmacht. Etwa die Idee vorsorgender Sozialstaatlichkeit, abgeleitet aus Thesen von Amartya Sen und konzeptionellen Arbeiten von Wolfgang Schroeder, der uns mit Rat und Tat beiseite gestanden hat. Die Grundidee lautet: Unsere Sozialstaatskritik ist nicht die der Konservativen oder Wirtschaftsradikalen, nach dem Motto „Je weniger Sozialstaat, desto besser für die wirtschaftliche Entwicklung“. Unsere Kritik an der Art und Weise, wie wir in Deutschland Sozialstaat organisieren, ist, dass das deutsche Wohlfahrtsmodell zwar auf der einen Seite nach wie vor im internationalen Vergleich sehr gut im Absichern großer Lebensrisiken ist, aber nicht so richtig gut beim Sichern von Lebenschancen. Das heißt, unser Sozialstaat ist sehr nachsorgend, sehr risikoorientiert. Wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, sind wir mit sehr viel Aufwand dabei.

In dem Papier von Rahner und Bujard wurde ein Plädoyer für eine sozialinvestive Politik, eine Lebenschancen-Politik, sehr gut herausgearbeitet. Neben diesem Befund gibt es Ansätze einer politikfeldübergreifenden Analyse, die sich aus Überlegungen von Günther Schmid herleiten, beispielsweise, was die Frage betrifft, ob es langfristig – langfristig, denn in einem großen Wurf wird das nicht möglich sein – möglich ist, in einer demografisch veränderten Welt die Arbeitslosenversicherung in eine Art Arbeitsversicherung umzuorganisieren, unter Betrachtung von Lebenslauf und Erwerbsbiografie: Wie sichern wir ungewollte Formen von prekären Situationen ab?

Die Frage ist auch: Wie können wir unterbrochene Zeiten von Erwerbstätigkeit – ob gewollt oder ungewollt – zukünftig sinnvoll für Weiterbildung, für Beschäftigungsfähigkeit und vieles andere nutzen? In der SPD-Bundestagsfraktion gibt es dazu die Arbeitsgruppe „Neue Ordnung am Arbeitsmarkt“, die sich zur Vorbereitung des Regierungsprogramms, das wir ab 2013 umsetzen werden, genau mit diesen Fragen befasst.

Das zweite Papier von Christian Leschinski, Adam Bock und Stefano Consiglio hat einen ganz anderen Ansatz. Ein schöner Satz lautet: Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie. Diese Gedanken sollten auch im sozialdemokratischen Sinn geordnet werden. Die beschriebenen Säulen passen gut dazu.

Aber einige Dinge würde ich mir in den beiden Papieren doch noch wünschen. Beide haben gemeinsam, dass sie sich auf ein, zwei im Strukturwandel wichtige Megatrends konzentrieren – zum einen auf den demografischen Wandel und die Demografie in Deutschland, zum anderen auf die Internationalisierung auf den Finanzmärkten.

Was meiner Meinung nach fehlt, sind zwei andere Megatrends, die ebenso wechselseitig den Strukturwandel beschreiben: der technische und wissenschaftliche Fortschritt, der Trend zu stärker wissensbasiertem Wirtschaften, mit allen Folgen, die das im Übrigen für beide Bereiche, für Arbeit und Wirtschaft, hat. Last but not least das Thema Ressourcenknappheit, Klimawandel, und die Notwendigkeit, auch daraus Schlüsse zu ziehen. Bei den deutschen Unternehmen hat sich der Diskurs stark verändert. Während es früher hieß: Steuern und Sozialabgaben runter und Arbeitsmarkt deregulieren, heißt es heute: Fachkräftesicherung, Energiepreise im Griff halten und Planbarkeit für Investitionen. Aus dieser praktischen Beobachtung heraus wäre es spannend, diese beiden anderen Megatrends hinzuzufügen.

Auch das Plädoyer für eine Strukturpolitik sollte in den Papieren etwas tiefer angegangen werden. Sicher, eine Mikrosteuerung soll es nicht geben. Setzt man sich jedoch zum Beispiel mit Industrie- und Dienstleistungspolitik auseinander, dann werden ein horizontaler und ein vertikaler Ansatz benötigt. Das heißt: Soll zukunftsfähig und nachhaltig gewirtschaftet werden, muss man darüber reden, was für alle Sektoren der Wirtschaft wichtig ist. Nachgedacht werden muss aber auch über eine Leitmarktpolitik.

Eine kritische Anmerkung zum Schluss: Die Ausführungen zum Thema Finanzmarktregulierung sind naturgemäß – weil das Papier nicht allumfassend sein kann – sehr allgemein. Wie es tatsächlich gelingen soll, die Finanzwirtschaft wieder als Dienstleister für die Realwirtschaft zu aktivieren, muss konkretisiert werden.

Der Ton der beiden Papiere hat mir jedoch gut gefallen, über Einzelheiten muss man reden. Denn auch eine Sozialdemokratie in der Wirtschaftspolitik, vor allem in einer nationalen Wirtschaftspolitik, gemahnt es zu Augenmaß und nicht zu Größenwahn. Auf der anderen Seite, und das unterscheidet uns möglicherweise von wirtschaftsradikalen oder neoliberalen Vorstellungen, sind wir nicht der Meinung, dass Wirtschaft vor allen Dingen in der Wirtschaft gemacht wird, denn dann ist Wirtschaftspolitik überflüssig. Gefordert wird hingegen eine progressive Wirtschaftspolitik.