Rede von Hubertus Heil zum Stand von Forschung und Innovation in Deutschland

Hubertus Heil (Peine) (SPD):

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her­ren! Sehr geehrter Herr Lenkert, Ihren Hinweis darauf, dass Innovationen aus Planwirtschaften automatisch ent­springen würden, können wir nicht vollständig teilen, es sei denn, Sie glauben, dass die Entwicklung des räumlich größten Mikrochips der Welt durch die DDR wirklich ein Sprung war. Das war sie nicht.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Auf der anderen Seite nehme ich Ihre Aussage aber sehr ernsthaft auf. Die Wahrheit ist auch nicht, dass reine und freie Marktwirtschaft Innovationen hervorbringt. Nur das Zusammenspiel von Wirtschaft, die frei ist, und Staat, der aktiv ist, bringt Innovationen hervor.

Die amerikanisch-italienische Ökonomin Mariana Mazzucato hat dazu ein bemerkenswertes Buch ge­schrieben, es heißt Das Kapital des Staates. Darin weist sie nach, dass vieles von dem, was vermeintlich aus der Innovation der Wirtschaft kommt – Geräte, die auf den Markt gekommen sind; das iPhone zum Beispiel –, in Wahrheit durch ganz viel öffentliche Grundlagenfor­schung entstand. Das gilt in vielerlei Hinsicht, nicht nur für das GPS. Nein, es geht nicht um Markt oder Staat, es geht um die Frage, wie Staat und Markt gemeinsam da­für sorgen, dass wir wirtschaftlich, wissenschaftlich und technisch innovativ bleiben. Das ist auch die Aufgabe, die wir in Deutschland haben, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Aber es braucht mehr, meine Damen und Herren. Der amerikanische Ökonom Richard Florida hat 2003 in sei­nem Buch The Rise of the Creative Class drei Vorausset­zungen identifiziert und beschrieben, wie Gesellschaften und Volkswirtschaften innovativ, kreativ und erfolgreich bleiben. Er hat gesagt: Wir bräuchten Technologie, Ta­lente und Toleranz.

Meine Damen und Herren, das sage ich auch an die­sem besonderen Tag, mit Blick auf eine Abstimmung, die heute in Großbritannien stattfindet. Ich sage an dieser Stelle: Toleranz, Technologie und Talente sind die Din­ge, die Europa ausmachen. Wenn Europa nicht weltof­fen bleibt, wenn Europa nicht zusammenhält, wenn wir unsere offenen Gesellschaften nicht verteidigen, dann ist das nicht nur eine Herausforderung für die Demokratie, in der wir leben, dann werden wir auch nicht innovativ bleiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist an dieser Stelle der Appell an unsere briti­schen Freunde, in Europa zu bleiben, gemeinsam an der Zukunft dieses Kontinents zu arbeiten, zum gemeinsa­men Nutzen wichtig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Nur wenn wir wissenschaftlich und technologisch auf der Höhe der Zeit sind, werden wir Wohlstand und sozia­len Zusammenhalt sichern können. Nur wenn wir ausge­zeichnete Bildung und Ausbildung so gestalten, dass sich alle Talente entfalten können, dass nicht Herkunft zählt, sondern Leistung, dass Menschen selbstbestimmt leben können, werden wir erfolgreich sein. Nur wenn wir freie, weltoffene und tolerante Gesellschaften bleiben, werden wir innovativ bleiben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ­NEN)

Meine Damen und Herren, werfen wir einen Blick da­rauf, wo wir stehen. Die Ministerin hat es deutlich ge­macht, die Vorredner der Koalition auch: Deutschland steht gut da. Wir nehmen im weltweiten Wettbewerbsfä­higkeitsindex des World Economic Forum Platz vier ein.60 Milliarden Euro investieren Wirtschaft und Staat ge­meinsam Jahr für Jahr in Innovationen, in Forschung und Entwicklung. Das Ziel, 3 Prozent des Bruttoinlandspro­dukts in Forschung und Entwicklung zu investieren, ist mit einem Wert von immerhin 2,88 Prozent – gemeinsam von Staat und Wirtschaft – fast erreicht.600 000 Men­schen in diesem Land arbeiten im Bereich Forschung und Entwicklung.

Der Bund hat daran in den letzten Jahren einen großen Anteil gehabt. Wir haben seit 2005 die Mittel des Bundes um 75 Prozent gesteigert, sie liegen bei 15,8 Milliarden Euro. Kollege Röspel hat recht: Die Tatsache, dass wir hier so gut dastehen, ist das Ergebnis der Entwicklung nicht nur der letzten elf Jahre, sondern der Entwicklung seit 1998.Seitdem ist es gelungen, vieles auf den Weg zu bringen. Wir haben die Hightech-Strategie zu so etwas wie einer gesamtgesellschaftlichen Innovationsstrategie weiterentwickelt. Wir stellen uns den Herausforderungen der Digitalisierung.

Mit den Wissenschaftspakten von Bund und Län­dern, mit dem Pakt für Forschung und Innovation, mit dem Hochschulpakt, mit dem Qualitätspakt Lehre, mit der Exzellenzstrategie, mit dem Programm „Innovative Hochschule“, mit dem neuen Pakt für wissenschaftlichen Nachwuchs hat unser Land die besten Rahmenbedingun­gen in seiner Geschichte, was Wissenschaft und Fort­schritt in diesem Land anbelangt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Darauf können wir gemeinsam stolz sein.

Es ist richtig: Wir haben keinen Grund, uns selbst­zufrieden zurückzulehnen. Denn die Berichte, die wir heute diskutieren, vor allen Dingen das EFI-Gutachten, beleuchten Stärken, aber eben auch Schwächen, die wir haben. Dazu sind vorhin einige Bereiche genannt wor­den. Ich will deutlich machen, dass wir beispielsweise im Bereich der Digitalisierung aufpassen müssen. Da gilt es, Frau Ministerin, tatsächlich, nicht den Anschluss zu verlieren. Da sind wir nämlich nicht ganz weit vorne; bei digitalen Dienstleistungen, vor allen Dingen bei IT und IT-Anwendungen, gehören wir nicht zur Spitzengruppe. Da müssen wir in vielerlei Hinsicht nachlegen,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

auch wenn wir den Weg in Richtung Industrie 4.0 ge­hen wollen, also der intelligenten und internetbasierten Vernetzung der modernen Produktion. Im Hinblick auf datengestützte Geschäftsmodelle und Dienstleistungen haben wir da einen großen Aufholbedarf.

Das gilt auch für die Frage der Souveränität Deutsch­lands und Europas im Bereich der Mikroelektronik; die Ministerin hat es deutlich gesagt. Frau Wanka, wir sind gemeinsam der Auffassung, dass wir hier richtig Geld in die Hand nehmen müssen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Auch da werbe ich bei Haushältern und Fi­nanzministern aller Couleur, dafür zu sorgen, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen können.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich will auch darauf hinweisen: Wenn wir im Bereich von IT und IT-Anwendungen innovativ bleiben wollen, muss der Staat mit besserem Beispiel vorangehen. Kol­legin Esken wird sicherlich darauf eingehen, dass wir in diesem Bereich, beim E-Government – das müssen wir unserer Bundesregierung selbstkritisch ins Stammbuch schreiben –, eher einem „NATO“-Prinzip folgen: No Action, Talk Only. Wir quatschen ganz viel über E-Government. Wir haben versäulte Insellösungen. Wir haben bei der Flüchtlingsfrage erlebt, dass wir im Bereich der öffentlichen Verwaltung nicht wirklich gut sind.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beim Hochschulzulassungssystem auch!)

Es steckt eine ganze Menge an Potenzial für Innovati­onen darin, uns in Bund und Ländern, in den verschie­denen Ministerien – ministerienübergreifend, nicht in Ressortegoismen – konsequenter der Modernisierung der IT und der digitalen Dienstleistungen des Staates zuzu­wenden.

(René Röspel [SPD]: Wobei mir das bei der NATO gefällt, nicht zu handeln!)

– Es war jetzt nicht die Verteidigungspolitik gemeint. Es ging nur um die Abkürzung „NATO“: No Action, Talk Only.

(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wäre aber mal ein guter Vorschlag!)

Die Robotik ist angesprochen worden. Ich bin der Ministerin sehr dankbar, dass sie deutlich gemacht hat: Es geht nicht nur um Industrierobotik; es geht auch um Services im sozialen Bereich, im Bereich Pflege, im Be­reich Haushalt, übrigens auch im Bereich Sicherheit, in der Landwirtschaft, in vielen anderen Bereichen. Auch da gibt es eine Menge an Potenzial, das wir noch nicht gehoben haben.

Ich will noch einen Bereich hinzufügen. Mit Blick auf die Energiewende, meine Damen und Herren, haben wir uns auf den Weg gemacht, in der Automobilindus­trie konsequenter als bisher in Richtung Elektromobili­tät zu gehen. Wir wissen aber: Wenn wir den Weg im Rahmen einer erfolgreichen Strategie schaffen wollen, dann brauchen wir nicht nur Infrastrukturen im Sinne von Ladeinfrastrukturen sowie Kaufanreize, sondern wir brauchen vor allen Dingen Batteriezellenforschung in diesem Land,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

um die Batteriezellen der Zukunft in Deutschland zu ent­wickeln und – das füge ich hinzu; es ist auch ein Ap­pell an die Wirtschaft – die Batteriezellenproduktion der Zukunft in Deutschland zu haben.30 Prozent der Wert­schöpfung im Bereich der Elektromobilität entfallen auf die Batteriezellenproduktion. Deshalb ist der Aufruf an die großen Automobilunternehmen, an die chemische Industrie und auch an die Zulieferindustrie: Geht diesen Weg, investiert in Deutschland!

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege Heil.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):

Wir setzen bessere Rahmenbedingungen, damit dieser Weg gelingt. Toleranz, Talente und Technologie – das ist unser Verständnis von Innovation. So werden wir Deutschland voranbringen. Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)