„Mut zur Differenzierung – Risiken und Chancen von TTIP“ in: Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte (2014), Heft 10, S.16-19

Die Debatte um die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft zwischen der EU und den USA, kurz: TTIP, hat seit diesem Frühjahr deutlich an Fahrt aufgenommen. In ihren Extremen schwanken die Positionen zwischen einem beinahe euphorischen Ausblick auf das wirtschaftliche Wachstumspotenzial auf der einen und der Beschwörung des Untergangs des europäischen Rechtsstaates auf der anderen Seite. Ob es am Ende überhaupt ein Abkommen geben wird, darf mittlerweile in Frage gestellt werden. Dabei befinden sich die Verhandlungen noch im Anfangsstadium. Jedoch ist der öffentliche Widerstand vor allem in Deutschland in weiten Teilen der Bevölkerung groß.

Nicht-Regierungsorganisationen machen mobil gegen den angeblichen »Ausverkauf« unserer Grundrechte und gegen die Macht der Großkonzerne. Wie unter einem Brennglas scheint TTIP den Protest von vielen Menschen zu bündeln, die von Veränderungen genug haben; von Menschen, die befürchten, TTIP habe das Ziel, die europäischen Standards beim Umwelt-, Verbraucher-, Arbeits- und Grundrechtsschutz abzusenken. Diese Sorgen und Ängste dürfen nicht mit Verweis auf das mögliche Wachstumspotenzial des Freihandelsweggewischt werden. Gleichzeitig darf man die Chancen, die freier und fairer Handel bietet, nicht einfach ignorieren.

Kurzum: Aus meiner Sicht wird zu Recht viel über die Risiken geredet. Es wird aber wenig über die Chancen geredet – zu Unrecht. Was wir brauchen, ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen eines solchen Abkommens. Dazu muss zunächst betrachtet werden, worum es eigentlich geht – und worum auch nicht.

TTIP-Ziel ist Abbau von Handelshemmnissen

Das Ziel von TTIP ist, Zölle und andere Barrieren im transatlantischen Handel zwischen der EU und den USA abzubauen. Die Märkte auf beiden Seiten des Atlantiks sollen stärker als bisher füreinander geöffnet werden. Wer sich noch nicht so intensiv mit dem Abkommen beschäftigt hat, könnte sich nun fragen, warum diese Zielsetzungen dermaßen großen Widerstand hervorrufen. Ein wesentlicher Grund ist die mangelnde Transparenz seitens der Verhandlungsführer auf beiden Seiten – für die EU ist dies die Europäische Kommission unter Federführung der Generaldirektion Handel, aufseiten der USA verhandelt die Behörde des Handelsvertreters der Vereinigten Staaten.

Das Verhandlungsmandat der EU, welches die Mitgliedsstaaten der Europäischen Kommission als »Leitplanke« mitgegeben haben, ist bis heute nicht offiziell veröffentlicht worden. Dies liegt am Widerstand von einigen europäischen Mitgliedsstaaten, die Sorge haben, die im Mandat enthaltenen Vorgaben könnten der US-Seite zugänglich werden und damit die Verhandlungsposition der EU-Seite schwächen.

Transparenz vs. Vertraulichkeit

Zudem war die Informationspolitik der EU-Kommission anfangs dürftig. Das hat Misstrauen geweckt. Es war daher richtig, dass Bundesminister Sigmar Gabriel eine breit angelegte Informations- und Beteiligungsoffensive gestartet hat. Dazu gehört unter anderem die Einrichtung eines Beirats im Bundeswirtschaftsministerium, an dem Vertreter von Gewerkschaften, Umwelt- und Verbraucherverbände, Wirtschaft, Kirchen und Kultur teilnehmen. Der Deutsche Bundestag erhält umfangreiche Daten, EU-Positionspapiere und Berichte nach jeder Verhandlungsrunde.

Die Bürgerinnen und Bürger ebenso wie die Parlamente erwarten zu Recht Transparenz bei den Verhandlungen. Diese hat allerdings auch Grenzen: Verhandlungen bedürfen immer auch einer gewissen Vertraulichkeit. Man kann nicht erwarten, dass sämtliche Verhandlungsstrategien und Rückfalloptionen vorab ins Internet gestellt werden. Entscheidend ist aber, dass die Öffentlichkeit in die Diskussion der Inhalte und der Ergebnisse einbezogen wird, damit jeder weiß, was das Handelsabkommen für sie oder ihn bedeutet.

Neben der Kritik an der fehlenden Transparenz scheint auch der schiere Umfang des Abkommens bei manchem für Unbehagen zu sorgen. Viele Bedenken sind nachvollziehbar, aber längst nicht alle Sorgen sind begründet.

Investitionsschutz im Falle von TTIP überflüssig

Eines der Hauptbedenken richtet sich gegen mögliche Klauseln zum Investitionsschutz. Ich bin nicht der Meinung, dass dieses Instrument grundsätzlich demokratiefeindlich ist. Deutschland hat bereits seit Ende der 50er Jahre mit über 130 Staaten Investitionsförderungs- und -schutzverträge abgeschlossen, überwiegend mit Schwellen- und Entwicklungsländern. Bei Auslandsinvestitionen in Regionen mit unsicherer Rechtslage braucht es einen Rechtsschutz für die deutschen Unternehmen, zum Beispiel vor Enteignung oder willkürlicher Ungleichbehandlung. Gleichwohl halte ich eine Investitionsschutz- Klausel im Sinne von Investor-Staats-Schiedsgerichtsverfahren, kurz: ISDS (Investor-state dispute settlement) im TTIP-Abkommen nicht für erforderlich, da beide Partner hinreichenden Rechtsschutz vor nationalen Gerichten gewähren. Auch die Bundesregierung hat diesen Standpunkt bereits in einer Protokollnotiz zum Verhandlungsmandat deutlich gemacht.

Nebenbei: Wer nun meint, der noch von der schwarz-gelben Vorgängerregierung gebilligte Investitionsschutz-Teil im europäisch-kanadischen Abkommen CETA sei eine Blaupause für TTIP, der irrt. Alleine das von der EU durchgeführte öffentliche Konsultationsverfahren zu TTIP wird für eine andere Herangehensweise an Investitionsschutz bzw. ISDS sorgen. Die EU-Kommission rechnet damit, dass die Auswertung der etwa 150.000 eingegangenen Stellungnahmen aus dem öffentlichen Raum bis zum Jahresende dauern wird. Für mich steht fest: Investitionsschutz ist nicht per se gut oder schlecht, aber im Falle von TTIP auf jeden Fall überflüssig.

Schutzstandards für Arbeitnehmer und Verbraucher nicht auf Verhandlungsagenda

Eine weitere Sorge betrifft die Schutzstandards für Arbeitnehmer und Verbraucher. Jedoch stehen nationale Gesetze oder Vorschriften eines EU-Mitgliedsstaates für Beschäftigung oder soziale Sicherungsmaßnahmen wie Streikrecht, Mindestlöhne oder Tarifverträge nicht auf der Verhandlungsagenda. Im Zusammenhang mit Arbeitnehmerrechten wird häufig die Einhaltung internationaler Arbeitsschutzstandards genannt. Die sogenannten Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO umfassen unter anderem die Vereinigungsfreiheit, die Abschaffung der Zwangsarbeit und das Verbot von Kinderarbeit. Richtig ist, dass die USA lediglich zwei der acht Kernarbeitsnormen unterzeichnet haben, während diese komplett von allen 28 EU-Mitgliedsstaaten getragen werden.

Es ist unrealistisch, dass die USA am Ende der Verhandlungen sämtliche Kernarbeitsnormen unterschreiben. Allerdings wird es dazu voraussichtlich ein eigenes Kapitel im Abkommen geben. Und wäre eine gemeinsam manifestierte Haltung nicht besser als keine öffentliche Übereinkunft in diesen Fragen?

Größten Bekanntheitsgrad als Symbol für die Gefahren durch TTIP für den Verbraucher hat das »Chlorhuhn« erlangt. Die Sorge: In Deutschland kommt wie in den USA im Chlorbad desinfiziertes Geflügel auf den Markt, und das ohne entsprechenden Hinweis. Wer in Europa könnte das eigentlich wollen? Jedenfalls wird es Fleischimporte nur von US-Betrieben geben, die den umfangreichen europäischen Vorschriften entsprechend Fleisch be- und verarbeiten. Dennoch weisen TTIP-kritische Organisationen zu Recht darauf hin, dass aufgepasst werden muss,dass Hormonfleisch und Chlorhuhn nicht durch die Hintertür über die angestrebte »regulatorische Kooperation« im Nachhinein Marktzugang erhalten.

So wie sich jedoch bei näherem Hinsehen manche Risiken relativieren, verhält es sich auch mit manchen Chancen. Dass jeder Privathaushalt durch TTIP 545 Euro mehr in der Haushaltskasse hat, wie es eine EU-Studie weis machen will, lässt sich ebenso wenig belegen, wie die Aussage der Kampagnenplattform Campact, dass »kleine Betriebe vom Markt gefegt« werden würden. Derartige Berechnungen und Prognosen sind irreführend, so lange kein Verhandlungsergebnis vorliegt.

Grundsätzlich gilt: Weniger Zölle und Handelsbarrieren sorgen für verbesserte Exportchancen, höhere Umsätze und mehr bzw. sicherere Arbeitsplätze. Die noch nicht einmal größten, aber vergleichsweise unkompliziert zu erreichenden Chancen bei TTIP liegen im Abbau von Zöllen. Alleine die deutsche Automobilindustrie geht von einem Einsparvolumen von einer Milliarde Euro pro Jahr aus. Es gibt Beispiele früherer Freihandelsabkommen für den positiven Effekt der Zollreduktion, etwa das 2009 abgeschlossene Abkommen zwischen der EU und Südkorea. Es brachte 8% Zollersparnis für die Industrie. Dem europäischen Maschinenbau hat dies laut eigener Aussage einen erheblichen Vorteil gegenüber Wettbewerbern, beispielsweise aus Japan, verschafft.

Handelshemmnisse entstehen vor allem durch bürokratische Hürden und unterschiedliche Standards und Kosten. Häufig werden Zertifikate benötigt, die vorsehen für bestimmte Produkte zusätzliche Prüfungen vorzunehmen. Das läuft auf nicht notwendige Doppelprüfungen hinaus, die nicht nur aufwendig, sondern auch teuer sind. So muss ein deutscher Anbieter von Elektrokomponenten in den USA pro 10 Millionen Euro Umsatz Zertifizierungskosten von über 40.000 Euro entrichten, gegenüber knapp 8.000 Euro, die in der EU errechnet wurden. Um dem entgegen zu wirken, müssten noch nicht einmal die Regeln und Vorschriften selbst angepasst werden. Es reicht schon, wenn man die Gleichwertigkeit der Regelungen anerkennt. Beispiel Automobilsektor: Die Sicherheitsbestimmungen in der EU und den USA sind unterschiedlich, führen aber im Wesentlichen zugleich sicheren Autos. Angesichts der bestehenden Handelshemmnisse lohnt es sich gerade für mittelständische Betriebe in der Praxis nicht, den US-Markt überhaupt zu bedienen.

Ließen sich diese Hürden durch ein Handelsabkommen aus dem Weg räumen, eröffnen wir unseren Unternehmen die Möglichkeit, neue Märkte zu erschließen, neue Jobs zu schaffen, Preisvorteile an die Kunden weiterzureichen und in die Entwicklung neuer Produkte zu investieren.

Chance globale Maßstäbe für nachhaltiges Wirtschaft zu setzen

Bei TTIP geht es aber noch um mehr: Es kann die Chance bieten, dass Europa und die USA globale Maßstäbe für nachhaltige Produktion und Konsum setzen. Dies wäre auch deswegen wünschenswert, weil die Verhandlungen auf WTO-Ebene erneut ins Stocken geraten sind. Dem Lichtblick von Bali Ende 2013 folgte kürzlich die Ernüchterung durch die Weigerung Indiens, das Abkommen zu unterzeichnen. Wichtige Beschlüsse der WTO können aber nur in Kraft treten, wenn sämtliche WTO-Staaten sie absegnen.

Der Fall Indien zeigt, dass dies eine kaum überwindbare Hürde ist. TTIP kann und soll die WTO-Verhandlungen zwar nicht ersetzen, wohl aber ergänzen. Denn schließlich sind gemeinsam vereinbarte Spielregeln für die Globalisierung besser als gar keine. Es sollte uns auch nicht egal sein, wer diese Regeln setzt. Bei allem Verständnis für die Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürger: Die USA und die EU teilen zwar nicht in allen Bereichen Werte und Ziele. Aber verglichen mit anderen Wirtschaftsräumen der Erde gibt es hier hohe Standards beim Schutz der Umwelt, wie auch von Arbeitnehmern und Verbrauchern.

Bundeswirtschaftsminister Gabriel weiterhin für vier klare TTIP-Bedingungen

Sigmar Gabriel hat als Wirtschaftsminister und SPD-Parteivorsitzender klar gemacht, dass es ein Freihandelsabkommen mit den USA nur geben kann, wenn vier klare Bedingungen erfüllt sind:

  • Erstens, dass keine Standards verschlechtert werden,
  • zweitens, dass das bewährte System unserer Daseinsvorsorge nicht angetastet wird,
  • drittens, dass es besondere Ausnahmen für den Kulturbereich geben muss und dass
  • viertens keine rechtsstaatlich getroffenen, demokratisch legitimierten Entscheidungen von Parlamenten, die dem Allgemeinwohl dienen, durch internationale Konzerne vor Schiedsgerichten angegriffen werden können.

Wir werden den ausgehandelten Abkommenstext daran messen und unsere Zustimmung davon abhängig machen. Im Falle, dass es sich bei TTIP um ein sogenanntes »gemischtes « Abkommen handelt, wovon auszugehen ist, müssten in Deutschland Bundestag und Bundesrat zustimmen.

Wir brauchen in Deutschland dringend eine unvoreingenommene und ergebnisoffene Debatte, an der sich Wissenschaft und Zivilgesellschaft beteiligen. Die Politik sollte diese Debatte offensiv voranbringen. Das ist nicht immer leicht, da der Prozess mit Unsicherheiten über das Ergebnis verbunden ist. Aber die Chancen, die ein solches Abkommen bieten kann, sind es wert. Daher braucht es vor allem Mut: Mut zur Differenzierung.