Rede von Hubertus Heil zum Jahreswirtschaftsbericht


Präsident Dr. Norbert Lammert:

Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Kollege Hofreiter, ich war ja auch vier Jahre lang Oppositionspolitiker. Wenn man als Oppositionspolitiker eine Rede hält, dann ist sie wirksamer, wenn man nicht sozusagen alles in Bausch und Bogen verdammt und schlechtredet, sondern sich auf die Punkte konzentriert, bei denen eine Regierung angreifbar ist. Insofern kann ich nur eines sagen: Ihre Rede ist der Sache nicht angemessen gewesen. Die Opposition scheint noch zu üben. Der Bundeswirtschaftsminister regiert. Das ist der Unterschied.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Eine solche Selbstgerechtigkeit!)

Ich habe Ihren Antrag gelesen.

(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

– Hören Sie doch einmal zu.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, Herr Heil! An solchen Reaktionen merkt man, dass man getroffen hat!)

Ich finde im Antrag der Grünen den einen oder anderen sympathischen Punkt. Aber eines darf man doch bitte einmal zur Kenntnis nehmen: Die Rede des Bundeswirtschaftsministers zum Jahreswirtschaftsbericht, die wir heute gehört haben, unterscheidet sich von denen seiner Vorgänger.

(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre sonst ja auch schlimm!)

Oft haben Bundeswirtschaftsminister bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts im Wesentlichen die Lage beschrieben, meistens sehr rosig

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da gebe ich Ihnen völlig recht!)

– ganz ruhig; nicht aufgeregt sein; ganz locker bleiben –, und sich damit begnügt. Sie finden ganz tolle Begriffe wie XXL-Aufschwung oder Ähnliches. Der Unterschied ist: Dieser Bundeswirtschaftsminister hat ein realistisches Bild der wirtschaftlichen Entwicklung dieses Landes gezeichnet, mit allen Stärken, die wir haben, aber auch mit allen Herausforderungen und Risiken. Er begnügt sich aber nicht damit, sondern er sagt, was diese Bundesregierung tun will und tun wird. Das ist der Unterschied.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Politik heißt, die Wirklichkeit zu betrachten, sie aber auch zu verändern. Das ist der Unterschied zur Vorgängerregierung.

(Beifall bei der SPD – Zuruf der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich will Ihnen sagen, was konkret wir uns vorgenommen haben. Es geht um leistungsfähige Infrastrukturen, die wir bereitstellen müssen, damit dieses Land wirtschaftlich erfolgreich bleibt. Es geht um die Sicherung der Fachkräftebasis in diesem Land. Es geht – das hat Sigmar Gabriel deutlich gemacht – um die Überwindung der Spaltung am Arbeitsmarkt, weil die Spaltung nicht nur ungerecht ist, sondern weil wir sie uns ökonomisch mit Blick auf die demografische Entwicklung gar nicht leisten können, weil wir Wohlstand und Teilhabe für alle brauchen, nicht nur aus Gründen des gesellschaftlichen Zusammenhalts, sondern auch aus Gründen der wirtschaftlichen Vernunft. Wir können uns Ausgrenzungen von Menschen am Arbeitsmarkt durch schlechte Löhne oder Dauerarbeitslosigkeit dauerhaft nicht leisten. Das ist eine ökonomische Weisheit, meine Damen und Herren, die wir begriffen haben.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU])

Es geht um Innovation, Forschung und Entwicklung. Und es geht darum, die Energiewende zu gestalten, sowie nicht zuletzt darum, die nach wie vor schwelende Krise im Euro-Raum in den Griff zu bekommen; denn die ist mitnichten überstanden. Es gilt der Satz: Wir haben gute Chancen, diese Reformen jetzt zu stemmen, weil wir in Deutschland eine gute wirtschaftliche Lage haben. Es gilt aber nach wie vor auch der Satz: Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen. Das tun wir mit den im Jahreswirtschaftsbericht aufgezeigten Instrumenten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch wenn Statistik Sie langweilt, Herr Kollege Hofreiter,

(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Hat er nicht gesagt!)

sollte man sich trotzdem mit ein paar wirtschaftlichen Fundamentaldaten zumindest auseinandersetzen. Es ist nicht zu bestreiten, dass wir eine ganz ordentliche wirtschaftliche Entwicklung haben.

(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich auch nicht getan!)

Die Prognose für dieses Jahr liegt bei 1,8 Prozent. Wir sagen nicht, dass das ein Grund ist, sich zurückzulehnen. Es ist mitnichten ein Grund, sich zurückzulehnen. Wir können etwas daraus machen. Wir sollten darüber reden, welches die Auseinandersetzungen der Zukunft sein werden, welche Herausforderungen auf uns zukommen.
Es geht darum, dass wir uns dem demografischen Wandel, dessen Folgen inzwischen auch den Arbeitsmarkt erfasst haben, stellen. Auf der einen Seite suchen immer mehr Unternehmen händeringend qualifiziertes Fachpersonal. Auf der anderen Seite gibt es in Deutschland nach wie vor viel zu viele Menschen, die abgehängt sind. Die Frauenerwerbsbeteiligung in Deutschland erscheint zwar prozentual hoch, das Arbeitsvolumen aber ist zu niedrig. Auch viele junge Leute sind abgehängt. Nach wie vor verlassen Jahr für Jahr 70 000 junge Menschen in Deutschland die Schule ohne Schulabschluss. 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren haben keine berufliche Erstausbildung. Wir haben viel zu viele Menschen, die im erwerbsfähigen Alter sind, aber zum alten Eisen gehören. Wir müssen nicht nur die Frage der Ausbildung in den Vordergrund stellen, sondern auch die Frage der Weiterbildung und der Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern behandeln.
Arbeitnehmerrechte sind nicht nur Bürgerrechte, sondern sie sind in diesem Land auch ein Instrument, um über Mitbestimmung für gute Arbeitsbedingungen und so dafür zu sorgen, dass Menschen auch beschäftigungsfähig bleiben können. Wir können es uns nicht mehr leisten, Menschen am Arbeitsmarkt auszugrenzen.
Wenn wir über Fachkräftesicherung reden, gehört dazu auch, dass wir über qualifizierte Zuwanderung in dieses Land reden müssen. Dafür brauchen wir nicht nur gesetzliche Regelungen, sondern vor allen Dingen eine Willkommenskultur, eine Weltoffenheit, die deutlich macht, dass dieses Land von Einwanderung und Zuwanderung profitiert und keinen Schaden nimmt.
Deshalb, meine Damen und Herren, ist die eine oder andere xenophobe Rede, die Politiker im Wahlkampf halten, nicht nur unanständig, sondern auch ökonomisch schädlich für dieses Land. Wir brauchen qualifizierte Zuwanderung. Wir müssen die inländischen Potenziale nutzen. Und wir brauchen Menschen, die zu uns kommen, damit sie hier arbeiten, lehren und leben. Das ist die Erkenntnis, die wir aus der demografischen Entwicklung ziehen müssen. Deshalb ist es gut, dass wir hier einen Schwerpunkt setzen.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es geht bei dem, was wir vorhaben, im Kern um eine Strategie, die auf Investitionen setzt. Frau Wagenknecht, Herr Hofreiter, es geht da um öffentliche Investitionen – gar keine Frage! Diese Bundesregierung wird in dieser Legislaturperiode 23 Milliarden Euro zusätzlich investieren, 6 Milliarden Euro in den Bereich Kitas, Schulen, Hochschulen, 3 Milliarden Euro in den Bereich Forschung, 5 Milliarden Euro in den Bereich der Verkehrsinfrastruktur. Und ja, ich würde mir auch das eine oder andere mehr wünschen. Aber es geht eben nicht nur um öffentliche Investitionen, sondern im gleichen Maße um die Bedingungen für private Investitionen.
Wir haben da ein Risiko, Herr Fuchs. Wir haben die Situation, dass deutsche Unternehmen tatsächlich nicht wenig investieren, vor allen Dingen große Unternehmen, aber leider viel zu wenig in Deutschland. Das ist eine Diskussion, die wir führen müssen. Dabei müssen wir über die Standortbedingungen in diesem Land sprechen. Ich rede davon, dass man für Innovationen auch Investitionen braucht, aber wir uns in diesem Land auch einmal vor Augen führen müssen, dass wir bei der Herausforderung der Digitalisierung, bei dem technischen Fortschritt, der vor uns liegt, nicht abgehängt werden dürfen. Da mache ich mir Sorgen. Wer weiß, dass der IKT-Anteil, der Anteil des Bereichs der Informations- und Kommunikationstechnologie an der Wertschöpfung, bei einem deutschen Auto heute 30 Prozent ausmacht, wer weiß, dass der IKT-Anteil bei Autos im Jahr 2025 aufgrund technischen Fortschritts bei ungefähr 60 Prozent liegen wird, und sich dann anschaut, wo die wesentlichen IKT-Unternehmen in der Welt sitzen, um dann festzustellen, dass nur noch 10 Prozent der Wertschöpfung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie in Europa stattfindet, der muss sich auf lange Sicht darum kümmern, dass wir in diesem Land und in Europa insgesamt im Bereich der digitalen Wirtschaft vorankommen. Deshalb, Herr Bundesminister, ist es gut, dass dieses Thema im Jahreswirtschaftsbericht angesprochen wird. Ich bitte diese Bundesregierung ganz herzlich darum, das Thema digitale Ökonomie, digitale Agenda, Industrie 4.0 als Herausforderung zu begreifen, die ähnlich groß ist wie das, was wir gerade im Bereich der Elektromobilität erleben, dass wir also die Kräfte bündeln müssen, wir Infrastrukturen benötigen, wir Investitionen in Bildung und Forschung brauchen, wir dafür sorgen müssen, dass wir da nicht zurückfallen, damit wir die Chancen digitaler Wirtschaft auch für Deutschland und Europa nutzen können.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Ja, es geht um Innovationen, es geht auch um Integration in gute Arbeit. Dazu hat der Bundeswirtschaftsminister eine ganze Menge gesagt. Es geht letztendlich auch um Internationalisierung. Deshalb bin ich dankbar, dass der Bundeswirtschaftsminister da einen differenzierten Blick auf die Chancen und die Risiken der Freihandelspolitik und des internationalen Freihandelsabkommens geworfen hat. Wir in Deutschland diskutieren ja ganz intensiv die Risiken. Es gibt viele Ängste in der Bevölkerung, in der Wirtschaft übrigens auch, dass bestimmte Standards, die wir in Deutschland und Europa gewohnt sind, abgesenkt werden könnten. Dagegen muss man sich stemmen. Aber ich sage im gleichen Atemzug: Es geht beim Thema Transatlantisches Freihandelsabkommen auch darum, die außen- und sicherheitspolitischen und ökonomischen Chancen zu sehen.
Wir haben vor einigen Jahren eine Rede von Präsident Obama erlebt, in der er beschrieben hat, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eine pazifische Nation seien.

(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Genau!)

Er hat also einen Blick von der pazifischen Küste Kaliforniens in Richtung Fernost – so nennen wir es – geworfen. Es ist ohne Zweifel so, dass die Vereinigten Staaten von Amerika auch eine pazifische Nation sind. Aber wir müssen ein politisches und wirtschaftliches Interesse daran haben, dass die Vereinigten Staaten von Amerika und Nordamerika insgesamt eben auch eine transatlantische Beziehung haben. Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund muss man – bei allem, was wir intensiv diskutieren, um sicherzustellen, dass das Transatlantische Freihandelsabkommen nicht sozusagen ein wirtschaftsradikaler Trojaner in Europa wird – über die Chancen dieses Abkommens reden und die Verhandlungen so gestalten, dass wir sie zum Nutzen Deutschlands und Europas führen. Deshalb ist meine ganz herzliche Bitte, in diesem Haus differenziert darüber zu reden. Ich muss schon sagen, dass mich da der Beschluss von Bündnis 90/Die Grünen, bei denen ich viele Atlantiker kenne, ein bisschen überrascht hat, weil er ein bisschen zu sehr die Risiken und nicht die Chancen berücksichtigt.
Meine Damen und Herren, Politik fängt damit an, die Wirklichkeit zu betrachten, um sie zu verändern.
(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut! Es heißt zwar ein bisschen anders, aber die Richtung stimmt, Herr Heil!)
In diesem Sinne hat der Bundeswirtschaftsminister mit dem Jahreswirtschaftsbericht eine realistische Betrachtung der Situation in diesem Land vorgelegt. Es geht nicht darum, nur die rosarote Brille aufzusetzen. Aber es geht eben auch nicht darum, alles in Grund und Boden zu reden, Frau Wagenknecht. Wir brauchen Macher und nicht Miesmacher, wenn es um die Wirtschaftspolitik in diesem Land geht. Das ist der Unterschied zu diesem Bundeswirtschaftsminister.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Inhaltslose Plattitüde! – Zuruf der Abg. Dr. Sahra Wagenknecht [DIE LINKE])

In diesem Zusammenhang – –

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Nein, nein, nicht „in diesem Zusammenhang“! Das war ein hervorragender Schlusssatz, Herr Kollege Heil,

(Heiterkeit)

der sich nur schwerlich toppen lässt.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Dann versuche ich es, Herr Präsident, gar nicht erst. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Wir brauchen tatsächlich Anpacker, und die gibt es in dieser Bundesregierung.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)