Rede von Hubertus Heil zur Arbeitnehmerüberlassung


Vizepräsident Eduard Oswald:

Vielen Dank, Kollege Karl Schiewerling. – Nächster Redner ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! In dieser Woche war nicht nur der Beitrag in der Süddeutschen Zeitung zu lesen, sondern es gab auch eine Dokumentation in der ARD mit dem Titel „Lohnsklaven in Deutschland“. Herr Schiewerling, in Bezug auf Ihre letzten Worte, die ich gehört habe, es sei alles halb so wild, kann ich Ihnen nur sagen:

(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Habe ich nicht gesagt!)

Wer diese Verhältnisse, die in diesem Bericht und in der SZ dokumentiert wurden, derart banalisiert und verharmlost, dem fehlt jede Empathie für die betroffenen Menschen. Das sage ich Ihnen an dieser Stelle ganz deutlich.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie blenden, weil Wahlkampf ist und weil es nicht in die heile Welt von Frau von der Leyen passt, zu der wunderbar rosaroten Brille, die die Ministerin gerne aufsetzt – die übrigens bei einer solch wichtigen Debatte fehlt; denn es sind ja nicht so schöne Bilder, mit denen man konfrontiert wird –, die Realität der Menschen in diesem Land aus. Es geht hier um die Verhältnisse in den Schlachthöfen in Deutschland. Es geht um miserable Bezahlung. Es geht um unwürdige Unterkünfte. Es geht um Erniedrigung und um Erpressung. Herr Schiewerling, Sie haben recht: Viele dieser Dinge sind nach geltendem Gesetz rechtswidrig, geradezu kriminell, und ein Fall für den Staatsanwalt. Ich sage Ihnen aber auch: Wenn Sie so tun, als handele es sich hierbei um Einzelfälle, dann verkennen Sie, dass der Anteil von Werkverträgen in einzelnen Betrieben inzwischen bei 90 Prozent liegt und dass wir es mit einem systematischen Missbrauch zu tun haben. Daher muss der Gesetzgeber handeln.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Wo haben Sie die Zahlen denn her?)

Im Schnitt haben 50 Prozent der Beschäftigten in der fleischverarbeitenden Industrie, in den Schlachthöfen sogenannte Werkverträge. In einzelnen Bereichen sind es, wie gesagt, sogar 90 Prozent. Aber das ist ja nicht nur bei den Schlachthöfen so. Wir erleben inzwischen auch im Einzelhandel, dass Menschen, die früher als abhängig Beschäftigte Regale eingeräumt haben, nun quasi als Unternehmer behandelt werden, obwohl sie gar keine Unternehmer oder keine Selbstständigen sind. Das heißt, sie tragen das volle Risiko, haben keine soziale Absicherung und sind am Ende die Gekniffenen. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU – auf die FDP kann man in dieser Frage überhaupt nicht mehr zählen –,

(Zurufe von der FDP: Was?)

das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts mehr zu tun. Das Kernversprechen der sozialen Marktwirtschaft oder eines sozialen Rechtsstaates ist unternehmerische Freiheit; gar keine Frage. Aber dazu gehört auch, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land keine Lohnsklaven sind, sondern soziale Bürgerrechte haben. Das ist soziale Marktwirtschaft, die wir einmal hatten. Wir werden in diesem Land wiederherstellen müssen, was Sie aus dem Lot gebracht haben. Sie haben an diesem Punkt nicht gehandelt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der FDP: Reden Sie einmal mit den Betriebsräten!)

Das Thema hat auch eine wirtschaftspolitische Dimension. Der Kollege Ernst hat zu Recht Belgien angesprochen. Wir haben die Situation, dass sich der Preis für das Schlachten und Zerlegen eines Schweins in diesem Land durch osteuropäische Kolonnen meist zwischen 1,02 Euro und 1,66 Euro bewegt. In Belgien sind es 4,50 Euro mit dem Ergebnis, dass belgische Betriebe inzwischen damit begonnen haben, diese Tiere bei uns auseinandernehmen zu lassen. Trotz der hohen Kosten für Transport und Energie ist das offensichtlich ein lohnendes Geschäft. – Was meinen Sie, was in unseren Nachbarländern los ist in Bezug auf das Ansehen Deutschlands in Europa, wenn wir solche widerlichen Zustände zulasten Menschen ausländischer Herkunft, von Miteuropäerinnen und Miteuropäern, dulden? Das geht zulasten aller Arbeitnehmer in diesem Land.

(Beifall bei der SPD)

Wir Sozialdemokraten werden nicht zulassen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Europa gegeneinander ausgespielt werden. Daher müssen wir in Deutschland handeln, Herr Schiewerling. Wir dürfen nicht nur warme Worte verlieren.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir reden im Kern über eine Neuordnung am Arbeitsmarkt. Sie haben ja nonchalant das Thema „gesetzlicher Mindestlohn“ ausgeblendet. Ich glaube, da plagt Sie ein schlechtes Gewissen. Zwar taucht der Begriff „Mindestlohn“ in Ihrem Wahlprogramm auf; aber wenn man sich das genauer anschaut, wird klar: Sie wollen ihn nicht wirklich. Oder warum lassen Sie das im Bundesrat beschlossene Gesetz zum gesetzlichen Mindestlohn in den Ausschüssen des Bundestages mit Ihrer Mehrheit verhungern? Im Kern unterstützen Sie keinen gesetzlichen Mindestlohn, der den Namen auch verdient. Ihre Rederei über das Mindestarbeitsbedingungengesetz bräuchten wir nicht, wenn wir einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland hätten. Dann wüsste jeder, was man in der Stunde in diesem Land mindestens verdient, um menschenwürdig über die Runden zu kommen. Aber das ist mit dieser Koalition nicht zu leisten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Sie haben über Arbeitnehmerüberlassung gesprochen, über Zeit- und Leiharbeit. Ja, da ist auf unseren Druck hin einiges an Regulierung erfolgt. In den Verhandlungen haben wir durchgesetzt,

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir haben auch ein bisschen geholfen!)

dass es bei der Arbeitnehmerüberlassung einen Mindestlohn gibt. Das reicht aber auch für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung nicht. Arbeitnehmerüberlassung, Zeit- und Leiharbeit waren einmal dazu gedacht, die Auftragsspitzen von Unternehmen abzudecken. Es ist aber mittlerweile ein Instrument massiver Lohndrückerei geworden. Was nach wie vor, obwohl es in einzelnen Branchen bitter erkämpft wurde, in der Breite vieler Branchen fehlt, ist der Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ sowohl für Stamm- als auch für Leihbeschäftigte, ist ein Synchronisationsverbot, sind stärkere Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte und ist auch eine Höchstüberlassungsdauer. Meine Damen und Herren, Arbeitnehmerüberlassung ist notwendig. Aber sie muss der Ausnahmefall bleiben und darf nicht mehr Einfallstor für Lohndrückerei sein. Das müssen wir dichtmachen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen aufpassen, dass sich der Missbrauch im Bereich der Werkverträge nicht wie Wasser neue Wege sucht. Es gibt Hinweise darauf, dass Werkverträge, die dem Grunde nach – das ist vollkommen richtig – eine ganz normale Sache im Rahmen der Vertragsfreiheit im Wirtschaftsleben unseres Landes sind und sein sollen, mittlerweile missbraucht werden. Das betrifft Werkverträge – wir haben es eben beschrieben – im Bereich der fleischverarbeitenden Industrie. Aber es betrifft auch das, was nicht unter Werkverträge, sondern schlicht und ergreifend unter Scheinselbstständigkeit fällt und auf dem Rücken von sogenannten Soloselbstständigen ausgetragen wird.
Herr Schiewerling, Richterrecht hin oder her. Natürlich brauchen wir in unserer Rechtsprechung die Möglichkeit, dass Gerichte Dinge definieren. Aber wir könnten es den Gerichten und auch den Behörden in Deutschland einfacher machen, effektiv gegen diesen Missbrauch vorzugehen, wenn der Gesetzgeber, dieses Haus, dafür sorgen würde, dass die Abgrenzung zwischen Scheinwerkverträgen und tatsächlichen Werkverträgen im Gesetz schärfer gefasst wird und Scheinselbstständigkeit klarer definiert wird. Die Grauzone in diesem Bereich ist eine Einladung zum Missbrauch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habt ihr schon einmal versucht! Ihr seid an der Realität gescheitert!)

– Ja, das haben wir versucht. Ich sage Ihnen an dieser Stelle nur: Es gibt die Möglichkeit, Dinge zu versuchen – das kann auch einmal nicht funktionieren –, und es gibt die Möglichkeit, die Augen vor der Realität der hart arbeitenden Menschen zu verschließen. Diese Regierung hat keine Ahnung davon, wie sehr hier die Würde der Menschen täglich mit Füßen getreten wird. Wenn Sie sagen, das sei alles Pathos und Theaterdonner, dann sage ich Ihnen: Ihnen fehlt die Empörung über solche Verhältnisse. Deutschland ist kein Land der Lohnsklaven. Wir wollen eine andere Bundesrepublik. Wir wollen Deutschland als soziale Marktwirtschaft.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

In diesem Bereich werden wir einen Politikwechsel einleiten müssen. Wir haben es nicht mehr mit Einzelfällen zu tun. Es scheint so zu sein, dass diese Koalition alle Missstände immer als bedauernswerte Einzelfälle darstellt. Sie haben nicht erkannt, dass mittlerweile viele Menschen demotiviert sind, dass sie in Frust abhängen, weil sie das Gefühl haben, es ändere sich überhaupt nichts, weil Sie ständig über Dinge reden, aber nicht handeln.
Herr Schiewerling, ich sage Ihnen: In diesem Fall gilt der alte Satz von Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. – Sie müssen handeln. Sie müssen Ihrer Verantwortung gerecht werden. Das haben Sie vier Jahre lang nicht getan. Bei allem freundlichen Umgang miteinander in diesem Haus am Ende einer Legislaturperiode: Sie tragen Mitverantwortung für diese missbräuchlichen Verhältnisse. Sie tragen Mitverantwortung dafür, dass die Rechte von hart arbeitenden Menschen in diesem Land, egal welcher Herkunft, mit Füßen getreten werden. Sie tragen Mitverantwortung dafür, dass es in diesem Land eine steigende Zahl von Menschen gibt, die trotz Vollzeitarbeit aufstocken und sich ergänzendes Arbeitslosengeld II abholen müssen.
Diese Regierung muss abgewählt werden, damit sich Leistung in diesem Land lohnt und damit die Würde aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land wieder gewährleistet wird.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)