Rede von Hubertus Heil zur Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010

Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Dr. Linnemann. – Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist tatsächlich heute zehn Jahre her, dass der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder von diesem Pult aus eine Regierungserklärung abgegeben hat. Es lohnt sich übrigens, die noch einmal insgesamt nachzulesen. Sie stand unter dem Motto „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung“. Es war übrigens die Regierungserklärung – daran seien Sie in der Union erinnert –, in der er das klare deutsche Nein zum Irakkrieg klargemacht hat –

(Beifall bei der SPD)

in einer Zeit, in der es von Frau Merkel noch sehr peinliche Ergebenheitsadressen gegenüber George Bush gegeben hat; aber das nur am Rande.
Wir diskutieren hier über den innenpolitischen Teil, über die Reformpolitik, die damals begonnen wurde. In dieser Debatte, an dem, was Frau Kipping und Herr Linnemann gesagt haben, stört mich vor allen Dingen -eines: die Unfähigkeit zur Differenzierung. Weder eine rosarote Brille noch eine Verelendungsdebatte helfen uns weiter, wenn es darum geht, festzustellen: Was hat sich in den letzten zehn Jahren getan?
Ich bleibe dabei: Wenn man die Agenda 2010, das Reformprogramm insgesamt, sieht, wenn man zum Beispiel in Erinnerung hat – Frau Kollegin Kipping, Sie verdrängen das gern, weil das nicht in Ihr Weltbild passt –, dass Teil der Agenda 2010 auch ein 4 Milliarden Euro schweres Ganztagsschulprogramm war,

(Zuruf von der SPD: Genau!)

dass es beispielsweise auch darum ging, die Bundesagentur für Arbeit besser aufzustellen – sie ist heute besser aufgestellt –,

(Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD])

wenn man etwas über die Vorgeschichte und die wirtschaftliche Situation weiß, in der wir damals waren,

(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Die Vorgeschichte ist, dass Sie den Wählern vor der Wahl 2002 erzählt haben, das müsse alles nicht sein!)

dann erklärt sich das eine oder andere.
Katja Kipping hat darum gebeten – das war die Nachricht, die sie gegeben hat –, dass wir einräumen, wo wir geirrt haben, wo es Fehlentwicklungen gab. Ich komme gleich dazu.
Aber dem Grunde nach will ich eines ins Gedächtnis rufen: Wo standen wir 1998? 1998, nach 16 Jahren Helmut Kohl, hatte sich in der Bundesrepublik Deutschland ein Reformstau aufgebaut.

(Zuruf von der SPD: Genau!)

Tatsache war, dass viele Langzeitarbeitslose, die damals in der Sozialhilfe waren, den Kommunen sozusagen vor die Tür gekippt wurden. Die sozialen Sicherungssysteme waren durch die Beitragsentwicklung, weil die deutsche Einheit falsch finanziert war, am Rande der Handlungsfähigkeit.

(Beifall bei der SPD – Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Genau so war es!)

Wir haben dann 1998 angefangen. Wir haben erst einmal versucht, das im guten deutschen System, im Konsens – im Konsens! –, nämlich über ein Bündnis für Arbeit mit Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, zu machen. Man muss einräumen, dass dieser Versuch nicht geklappt hat, weil die Interessengegensätze damals – übrigens im Gegensatz zu heute, wo in der Wirtschaftskrise Kooperation zwischen Wirtschaft und Gewerkschaften stattfand, wo Sozialpartnerschaft wieder höhere Wertschätzung erfährt – zu groß waren. Dieses Bündnis für Arbeit ist gescheitert, nicht an der Bundesregierung, sondern an Interessengegensätzen, die nicht überwindbar waren. Die Debatte war von Verbandsdenken geprägt. Können Sie sich an Hans-Olaf Henkel erinnern, der damals durch jede Talkshow lief?
Dann war zu entscheiden, weil sich die Lage damals, nach dem Platzen der Dotcom-Blase, verschärfte und wir in Deutschland auf einmal 5 Millionen Arbeitslose hatten. Deshalb haben wir angefangen.
Jetzt sage ich Ihnen: Aus heutiger Perspektive gibt es zwei, drei Fehlentwicklungen, die wir dringend korrigieren müssen. Frau von der Leyen, ich habe heute Ihre Äußerungen gelesen. Ich bin ganz vorsichtig, aber ich kann mich erinnern, dass Sie 2003 ein anderes Amt hatten. Sie waren damals frisch gebackene Arbeits- und Sozial-ministerin in unserem Land, Niedersachsen. Im Übrigen haben Sie in dieser Funktion damals wesentliche Teile der Agenda 2010, zum Beispiel das Tagesbetreuungsausbaugesetz, blockiert. Außerdem haben Sie über den Vermittlungsausschuss mitgeholfen, dass vor allem auch die Arbeitsmarktgesetzgebung betreffende Punkte in die Agenda 2010 hineingekommen sind, die sich am Ende als Fehlentwicklung erwiesen haben.
Wir haben damals beispielsweise gesagt, dass wir die Zumutbarkeitskriterien auf die Tariflöhne abstellen wollen. Im Vermittlungsausschuss saßen damals Frau von der Leyen, Herr Stoiber, Herr Koch, Herr Wulff und wie sie alle hießen, die dagegen waren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das meine ich mit den Fehlentwicklungen, die wir heute haben. Diese Fehlentwicklungen zeigen sich am Arbeitsmarkt. Wir brauchen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt. Aus heutiger Perspektive wäre es 2003 vernünftig gewesen, einen gesetzlichen Mindestlohn ein-zuführen. Ich will nur darauf hinweisen, dass in der damaligen Diskussion ein Mindestlohn bis auf die Gewerkschaften NGG, Verdi, IG BAU – auch von großen Industriegewerkschaften – eher abgelehnt wurde.
Mit Verlaub, es waren auch einige Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen dagegen. Kollege Kurth war damals dafür.

(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! Ja!)

Ich war auch dafür. Es gab aber auch andere – um das einmal freundlich zu formulieren.
Heute wissen wir, wie wichtig der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland ist, damit Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit leben können. Seit 2005 erleben wir aber, dass die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, der diesen Namen auch verdient, an CDU/CSU und FDP in diesem Land scheitert. Das müssen wir ändern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Schauen wir uns einmal an, welche Fehlentwicklungen es noch gegeben hat. Zur Differenzierung gehört auch, sich selbstkritisch mit dem auseinanderzusetzen, was nicht gut gelaufen ist. Dies betrifft den massiven Missbrauch im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung, im Bereich der Zeit- und Leiharbeit. Damals ist im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ein Schlupfloch entstanden, das inzwischen scheunentorweit geöffnet wurde und das zu Missbrauch geführt hat.
Ich bleibe dabei: Arbeitnehmerüberlassung macht Sinn, um bei Unternehmen Arbeitsspitzen aufzufangen und Flexibilität zu schaffen. Daraus geworden ist allerdings ein Einfallstor für Lohndrückerei.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ gilt, dass es Höchstüberlassungsdauern gibt, dass die Mitbestimmungsrechte in diesem Bereich gestärkt werden und dass das Synchronisationsverbot wieder eingeführt wird.
Das sind zwei zentrale Baustellen, an denen Veränderungen notwendig sind.
Da Sie jetzt schwadronieren, sage ich Ihnen aber auch, Frau von der Leyen: In den vergangenen vier Jahren haben Sie ohne unsere Hilfe gar nichts hinbekommen. Wir mussten mithelfen, dass es bei der Jobcenter-reform zu einer Lösung kam. Außerdem mussten wir Sie bei den Regelsätzen treiben, damit es zu einer Lösung kam.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was denn für eine Lösung? Wo ist denn die Lösung?)

Ich sage Ihnen darüber hinaus ganz deutlich: Die Fragen des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft in Deutschland der vergangenen zehn Jahre sind nicht die der nächsten zehn Jahre. Wir haben jetzt eine Entwicklung, die man als Gefahr eines tief gespaltenen Arbeitsmarkts beschreiben kann. Immer mehr Unternehmen werden aufgrund der demografischen Entwicklung am Arbeitsmarkt qualifizierte Fachkräfte suchen. Auf der anderen Seite gibt es nach wie vor viel zu viele langzeitarbeitslose Menschen, aber auch Menschen, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen befinden und somit abgehängt worden sind.
Wir müssen mehr tun für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Frau von der Leyen, wenn Sie sich hier hinstellen und wortreich erklären, dass Sie in Zeiten der Großen Koalition das, was die SPD durchgesetzt hat, auch umgesetzt haben, dann sage ich dazu: Das mag stimmen. Aber Sie gehören nach wie vor einer Regierung an, die übrigens nicht gegen Ihren Widerstand, sondern mit Ihrer Unterstützung – vielleicht gegen Ihre eigene Überzeugung; das will ich unterstellen – ein idiotisches Betreuungsgeld ausreicht mit allen Folgen, die das für den Arbeitsmarkt hat.
Wenn wir das Thema der Fachkräftesicherung ernst nehmen, dann müssen wir dafür sorgen, dass vor allen Dingen Frauenerwerbsbeteiligung in Vollzeit in diesem Land zum Zuge kommt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Dass Frau Schröder dieses Thema jetzt entdeckt hat, ist schön. Aber es gilt auch in diesem Fall, Frau von der Leyen: Nicht reden, sondern handeln. Mit diesem idiotischen Betreuungsgeld handeln Sie aber in die falsche Richtung. Die Mittel dafür brauchen wir, um mehr in Bildung investieren zu können.
Durch diese Entwicklung stellen sich ganz neue Herausforderungen. Mit der Agenda 2010 haben wir – die Fehler habe ich eingeräumt – dem Grunde nach eine Situation geschaffen, in der Deutschland in den Jahren 2008 und 2009 besser aufgestellt durch die Krise gekommen ist als andere Volkswirtschaften, die heute unter ungemein schwierigeren Bedingungen Strukturreformen vor sich haben.
Nur, meine Damen und Herren von der Koalition, eines vergessen Sie, wenn Sie heute wortreich von Strukturreformen in anderen Ländern reden, abgesehen davon, dass Sie selbst noch gar keine hinbekommen haben: Unsere Strukturreformen waren keine Kürzungsprogramme. Unsere Strukturreformen waren an Investitionen gekoppelt. Ich habe auf 4 Milliarden Euro für das Ganztagsschulprogramm hingewiesen. Wenn man Strukturreformen macht, ist es notwendig, dass gleichzeitig investiert wird. Diesen volkswirtschaftlichen Zusammenhang haben Sie nicht gelernt.
Meine Damen und Herren von der Linkspartei, ich weiß, dass Sie das nicht einsehen werden. Dennoch werde ich Ihnen das noch einmal deutlich machen: Wenn wir damals nicht gehandelt hätten und in den Jahren 2008 und 2009 die Krise ohne diese Reformen erlebt hätten, dann wäre kein Geld für veränderte Regelungen zur Kurzarbeit da gewesen, die dazu beigetragen haben, Beschäftigung in Deutschland zu sichern. Dann wären uns die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland um die Ohren geflogen. Wir haben damals gesagt: Wir müssen selbst modernisieren, oder wir werden überrannt. – Das ist der Grund, meine Damen und Herren. Es ist kein Grund, stolz zu sein, und wir feiern es auch nicht, weil viele Menschen es persönlich als Härte erlebt haben und es Fehlentwicklungen gegeben hat; das gehört auch zur Wahrheit. Natürlich hat meine Partei dafür einen bitteren Preis gezahlt: Wir haben über diese Auseinandersetzung Wahlen verloren.
Wir haben aber in den letzten vier Jahren die Zeit genutzt, um unsere Fehler aufzuarbeiten und uns nach vorne auszurichten. Deshalb sage ich: Es geht nicht mehr um die Agenda 2010. Jetzt geht es um die Frage, wie es in Deutschland weitergeht. Da stehen wir Sozialdemokraten für einen klaren Grundsatz: Für uns sind wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit zwei Seiten derselben Medaille.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)