Rede von Hubertus Heil zu Zukunftsinvestitionen in die Wirtschaft


Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die SPD-Fraktion dem Kollegen Hubertus Heil.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben diesen Antrag eingebracht, weil wir uns Gedanken über die Frage machen, wie wir es schaffen, dass Deutschland wirtschaftlich erfolgreich bleibt.
Ohne Frage: Deutschland ist derzeit im Vergleich zu anderen Volkswirtschaften in Europa ein extrem erfolgreiches Land. Wir sind Exportvizeweltmeister. Die Ursachen dafür liegen zum Beispiel darin, dass wir vor zehn Jahren den Mut zu politischen Veränderungen hatten,

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wo sind die eigentlich geblieben?)

die notwendig waren, die zum Teil schmerzhaft waren, die nicht in jedem Detail richtig waren, aber die mitgeholfen haben, dass Deutschland vor der Krise 2008 -besser aufgestellt war als andere Volkswirtschaften in Europa.

(Beifall bei der SPD)

Der wesentliche Grund aber, warum Deutschland im Gegensatz zu anderen Volkswirtschaf-ten bis dato besser durch die Krise gekommen ist, ist die Tatsache, dass wir nach wie vor eine Industrienation sind, dass wir eine breite industrielle Wertschöpfungskette haben: von den Grundstoffindustrien über den industriellen Mittelstand bis hin zu den kleinen Hightechunter-nehmen in diesem Land.
Das ist keine Banalität, weil wir uns noch sehr gut erinnern können, meine Damen und Herren von der FDP, wie Sie und Ihre Gesinnungsfreunde vor zehn Jahren über Industrie in Deutsch-land gesprochen haben. Sie haben damals geglaubt, die Zukunft liege allein bei Dienstleistun-gen: Gemeint waren Finanzdienstleistungen.

(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Quatsch!)

Ihr Herr Westerwelle hat uns damals empfohlen, den Irrweg Irlands zu gehen und stärker auf Finanzzockereien zu setzen. Wir sind Gott sei Dank diesen Weg nicht gegangen, sondern wir haben unsere industrielle Basis erhalten und erneuert.

(Beifall bei der SPD)

Im Jahr 1998 betrug der industrielle Anteil Deutschlands an seiner Wirtschaft 24 Prozent. Großbritannien hatte einen gleich hohen Anteil. Heute liegt der Wert in Großbritannien bei 14 Prozent. Wir müssen etwas dafür tun, damit wir ein erfolgreiches Wirtschaftsland bleiben. Doch die Sorge, die wir haben, ist, dass Sie sich in den letzten drei Jahren, seit Schwarz-Gelb dieses Land regiert, auf guter Konjunktur, auf dem Mut von Vorgängerregierungen, auf dem industriellen Fortschritt von Unternehmen und Gewerkschaften einfach ausgeruht haben und dass wir in der Gefahr sind, den Vorsprung, den wir uns in Deutschland mühsam erarbeitet haben, wieder zu verlieren. Der Attentismus, das Chaos dieser Bundesregierung, das Zuwar-ten im Bereich der Wirtschafts- und Industriepolitik – im Bereich der Energiepolitik eben wort-reich beschrieben –, ist das eigentliche Standort-risiko für Deutschland, für die Zukunft des Wohlstands und für die Arbeitsplätze in unserem Land.
Es sind vier große Herausforderungen, vor denen Sie sich im Moment wegducken und auf die Sie keine Antworten haben. Da ist beispielsweise der veränderte Altersaufbau unserer Gesellschaft, der mittlerweile am Arbeitsmarkt ankommt. Die Politik, die Sie machen, führt dazu, dass wir in einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt geradezu hineingetrieben werden. Auf der einen Seite suchen immer mehr Unternehmen händeringend qualifizierte Fachkräfte, und auf der anderen Seite sorgen Sie dafür, dass Menschen durch prekäre Beschäftigung und Langzeitarbeitslosigkeit abgehängt werden. Das kann sich Deutschland wirtschaftlich nicht leisten. Wir brauchen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt, die Menschen in Arbeit bringt und sie nicht durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse abhängt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dazu gehört der gesetzliche Mindestlohn. Dazu gehört gleicher Lohn für gleiche Arbeit in der Zeit- und Leiharbeit. Dazu gehört auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik. Wenn wir über Fach-kräftesicherung sprechen, dann müssen wir uns auch über die Potenziale in unserem Land Gedanken machen. Das Wichtigste dabei ist, dafür zu sorgen, dass die Frauenerwerbsbeteili-gung, auch was Vollzeitarbeit betrifft, in diesem Land endlich auf europäisches Niveau kommt. Sie führen ein idiotisches Betreuungsgeld ein, das Frauen vom Arbeitsmarkt fernhal-ten soll. Das ist das Gegenteil von Fachkräfte-sicherung.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir brauchen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für junge Männer und Frauen, damit die Potenziale genutzt werden können. Wir müssen endlich dafür sorgen, dass nicht weiterhin 60 000 junge Menschen Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Schulabschluss verlassen, dass 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ohne berufliche Erstausbildung dastehen.
Der Standortvorteil Deutschlands hat mit der guten dualen Ausbildung in diesem Land zu tun. Das bescheinigen uns inzwischen sogar amerikanische Präsidenten. Wir müssen sie erhalten und modernisieren, aber wir müssen auch dafür sorgen, dass junge Menschen ausbildungs-fähig sind. Deshalb brauchen wir mehr Ganztagsschulen und auch frühkindliche Förderung in Deutschland. Sie machen das Gegenteil, und das ist wirtschaftlicher Unsinn.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die zweite große Herausforderung neben der Frage von Demografie und ihrer Auswirkung auf den Arbeitsmarkt ist und bleibt die Internationalisierung. Hierbei muss die Frage ange-sprochen werden, welche Regeln wir auf den internationalen Finanzmärkten haben. Es gibt jetzt viel Gerede vor der Wahl und Papiere von Herrn Schäuble, die sich endlich auch einmal mit dem Thema Trennbanken beschäftigen.

(Birgit Homburger [FDP]: Über was reden Sie hier eigentlich? Davon steht gar nichts drin!)

Ich sage Ihnen: Wir brauchen im Interesse der Realwirtschaft und auch der industriellen Basis dieses Landes die Spielregeln auf den Finanzmärkten. Wir wollen dafür sorgen, dass in Deutschland in Realwirtschaft statt in Zockerei investiert wird. Dafür müssen Sie Ihre Haus-aufgaben machen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die dritte große Herausforderung neben dem veränderten Altersaufbau und der Internationali-sierung ist die Tatsache, dass wir wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in diesem Land haben und brauchen, um erfolgreich sein zu können. Deutschland wird nicht mit den niedrigsten Löhnen, sondern nur mit den besten Produkten, Verfahren und Dienstleistungen wettbewerbsfähig sein. Wenn man das in Deutschland erhalten will, dann muss man dafür sorgen, dass auch der industrielle Mittelstand in diesem Land stärker an Forschung und Ent-wicklung partizipieren kann.
Sie haben im Koalitionsvertrag dem Mittelstand steuerliche Forschungsförderung verspro-chen. In den Ankündigungsreden höre ich, dass Sie das wieder versprechen. Nur gehalten haben Sie es nicht. Wo ist denn Ihr Konzept für steuerliche Forschungsförderung in dieser Legislaturperiode? Wir werden das nach der Wahl ändern.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die größte Herausforderung neben der Demografie für die deutsche Wirtschaft und für unser Land wird die Frage sein, wie wir mit dem Thema Ressourcenknappheit und Energiewende seriös umgehen. Darüber ist heute Morgen diskutiert worden.
Ich will eine Begebenheit von gestern schildern. Ich war auf einer Veranstaltung des Bundes-verbands der Deutschen Industrie, der unverdächtig ist, eine Vorfeldorganisation der SPD zu sein. Dort war ein Vertreter Ihrer Regierungsfraktion – es war, glaube ich, der energiepoliti-sche Sprecher der CDU/CSU-Fraktion –, der Wert darauf legte, dass er mit der Energiepolitik seiner eigenen Bundesregierung wenig zu tun hat. Er sprach davon, dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion streng genommen eine Nichtregierungsorganisation sei.
Ich kann nur sagen: In der Energiepolitik merkt man, dass Sie eine Nichtregierungsorganisati-on sind. Denn Tatsache ist, dass aufgrund Ihres Vorgehens – das Zerstören der Planungs- und Investitionssicherheit in vielen Bereichen und das Vergurken der Energiewende – mittler-weile aus einer industriellen Chance, die die Energiewende dem Grunde nach ist, ein wirt-schaftliches und soziales Risiko für dieses Land geworden ist.
Wenn Sie auf uns nicht hören, dann hören Sie auf die Verbände, mit denen Sie sonst immer so dicke sind. Das, was Sie im Bereich Energiepolitik fabrizieren, ist etwas, das uns zurück-werfen kann.
Wenn man sich international ein bisschen umtut und weiß, dass es nicht nur im Nahen Osten, sondern auch im Fernen Osten und in Nordamerika aus unterschiedlichen Gründen sehr gute Standortbedingungen für eine Reindustrialisierung gibt – zum Beispiel durch die Shale-Gas-Revolution in Nordamerika, weil dort die Energiepreise mutmaßlich sehr niedrig sein werden –, und dass diese Länder demografisch anders aufgestellt sind als wir, dann kann man in Deutschland die Energiewende nicht so vergurken, wie Sie das machen. Sie haben eine Energiewende versprochen, die sauber, sicher und bezahlbar sein soll. Heute erleben wir Un-sicherheit bei der Versorgung und steigende Preise. Was das Stichwort „sauber“ betrifft, kann man nur sagen: Sie sind nicht sauber im Arbeiten, was die Energiewende betrifft. Deshalb müssen wir auch da den Schalter umlegen.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion – es ist ein interessanter Zufall, dass das am zehn-ten Jahrestag der Agenda 2010 ist – einen Vorschlag für die nächsten zehn Jahre gemacht. Vor zehn Jahren standen wir vor ganz anderen Problemen am Arbeitsmarkt in Deutschland, als es heute Gott sei Dank der Fall ist. Die Aufgaben der letzten zehn Jahre sind nicht die der nächsten zehn Jahre. Aber wie wir mit dem veränderten Altersaufbau, Stichpunkt Fachkräf-tesicherung, und der fortschreitenden Internationalisierung der Bändigung der Finanzmärkte im Interesse von Realwirtschaft umgehen, wie wir die Energiewende zum Erfolg führen und wie wir dafür sorgen, dass Deutschland eine starke, wissensbasierte und erfolgreiche Indust-rienation bleibt: Das sind die Aufgaben, denen wir uns stellen müssen. Denn Sie haben in den letzten Jahren dafür gesorgt – dabei rede ich jetzt nicht mehr von Schwarz-Gelb, sondern die Merkel-Regierung hat dafür gesorgt –, dass wir den Vorsprung, den wir uns mühsam erarbei-tet haben, wieder gefährden.
Ich sage Ihnen: Wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit, das sind für uns Sozialde-mokraten keine Gegensätze, sondern wechselseitige Bedingungen, wenn wir erfolgreich sein wollen. Die Art und Weise, wie Sie das Ganze laufen lassen bzw. verschludern und sich auf den Lorbeeren der Vorgängerregierungen ausruhen, ist ein Standortrisiko. Deshalb brauchen wir im Interesse des Wirtschaftsstandorts Deutschland einen Regierungswechsel im Herbst dieses Jahres.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das reden Sie sich alles selbst