Rede von Hubertus Heil zur Einführung eines gesetzlichen Mindeslohns

Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Frau Kollegin Michalk. – Nächster Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser Kollege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diese Debatte gibt Anlass, über das zu reden, was das Wesen unserer sozialen Marktwirtschaft einmal war und sein soll. Was macht eigentlich unsere Wirtschaftsordnung aus, die wir dem Grunde nach befürworten und die über Jahrzehnte hinweg in Deutschland eine große Akzeptanz hatte? Was macht eigentlich die heutige Zeit mit der Unterstützung dieser marktwirtschaftlichen und sozialen Ordnung?
Ich glaube, dass das Element der Leistungsgerechtigkeit zur Marktwirtschaft dazugehört.

(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Ja!)

Ich frage Sie, ob es leistungsgerecht ist, wenn 6,1 Millionen Erwerbstätige in diesem Land weniger als 8,50 Euro pro Stunde verdienen.

(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Wo ist denn da die Quelle?)

Ich frage Sie, welche Auswirkungen das hat auf die Motivation der Kinder von Eltern, die hart arbeiten und sich am Ende des Tages ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Staat abholen müssen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was will denn die SPD?)

Was ist das für ein Vorbild für junge Menschen, denen wir sagen, dass sie sich im Leben anstrengen müssen, damit aus ihnen etwas wird und sie einen gerechten Anteil am Wohlstand haben? Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Argumentation, die nicht falsch ist, dass wir einen Abstand zwischen sozialen Transfers und Einkommen brauchen?
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass man das Existenzminimum bei der Berechnung des Regelsatzes nicht künstlich herunterrechnen darf, wie Sie es immer wieder versucht haben. Wenn Sie tatsächlich einen Lohnabstand haben wollen, geht das nur über einen Mindestlohn – ich füge hinzu: über einen gesetzlichen Mindestlohn.
Neben Leistungsgerechtigkeit geht es in dieser Debatte auch um die Frage des sozialen Ausgleichs und der Teilhabe am Wohlstand in diesem Land. Auch das ist immer ein Kennzeichen der sozialen Marktwirtschaft gewesen. An dieser Stelle sollten Sie sich an das Credo von Ludwig Erhard „Wohlstand für alle“ – und nicht für wenige – erinnern. Was das angeht, ist in diesem Land etwas aus den Fugen geraten.

(Beifall bei der SPD)

Schauen wir uns einmal den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung an,

(Anton Schaaf [SPD]: Der ist doch gefälscht! Den gucke ich mir nicht mehr an!)

der aufzeigt, wie Einkommen und Vermögen in diesem Land auseinandergehen. Im Übrigen versuchen Sie auf Intervention von Herrn Rösler, diesen Tatbestand aus dem Bericht zu tilgen und damit der Öffentlichkeit die Wahrheit vorzuenthalten.

(Zuruf von der FDP: Du hast ihn gar nicht gelesen!)

Deshalb müssen wir uns darüber unterhalten, wie wir in diesem Land eine gerechtere Teilhabe und Leistungsgerechtigkeit organisieren. Dabei geht es um Fragen der Steuer- und Abgabenpolitik und darum, wie man diese gerecht, vernünftig und wirtschaftlich gestaltet. Die primäre Verteilung des Wohlstands erfolgt in diesem Land aber über die Lohnentwicklung.
Über Jahre und Jahrzehnte hinweg haben die Sozialpartner im Rahmen der Tarifautonomie das Richtige gemacht. Wir müssen aber feststellen, dass das in vielen Bereichen heute nicht mehr funktioniert, weil Tarifbindungen nachgelassen haben, weil in einzelnen Branchen immer weniger Menschen in Gewerkschaften organisiert sind und weil zum Teil Arbeitgeber aus Arbeitgeberverbänden ausgetreten sind. Das ist der Grund, warum wir in Deutschland eine Debatte über die neue Ordnung am Arbeitsmarkt brauchen.
Die Tarifautonomie ist richtig und wichtig. Die Tarifautonomie und die Sozialpartnerschaft müssen gestärkt werden, aber nicht in Sonntagsreden, sondern in einem vernünftigen Ordnungsrahmen, den wir für Lohnfindungsprozesse in diesem Land brauchen.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb sage ich: Es ist gut und richtig, dass tarifvertragliche Lösungen Vorrang haben. Herr Kolb, wenn Sie sich rühmen, dass Sie in einigen Branchen Mindestlöhne eingeführt hätten,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Stimmt!)

dann kann ich Ihnen sagen, dass ich mich noch gut daran erinnern kann, wie wir Ihnen in zähen Verhandlungen jeden einzelnen abringen mussten. So viel zu dem Thema, wie Sie politisch manipulierend mit Tarifverträgen in diesem Land umgegangen sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, neben Leistungsgerechtigkeit, sozialem Ausgleich und Motivation in einer sozialen Marktwirtschaft geht es nicht zuletzt um fairen Wettbewerb in der Wirtschaft. Ich kenne sehr viele anständige Unternehmer in diesem Land, die ihren Betrieb ordentlich führen – oft sind es familiengeführte mittelständische Unternehmen –, die sich bemühen, die persönliche Risiken eingehen und die motivierte Kolleginnen und Kollegen als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben wollen, die die Menschen anständig behandeln und bezahlen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Aber es sind gerade diese Unternehmer, die anständigen Unternehmer – das ist die große Mehrheit –, die von Dumpingkonkurrenz bedroht werden,

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

die von Dumpingkonkurrenz unterboten werden. Im Interesse eines fairen Wettbewerbs, auch im Interesse fairer Unternehmensführung, im Interesse anständiger Kaufleute in diesem Land brauchen wir einen Ordnungsrahmen, der fairen Wettbewerb ermöglicht und nicht eine Abwärtsspirale auslöst, wie wir sie leider haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb sage ich Ihnen: Aus Gründen der sozialen Gerechtigkeit, aus Gründen der finanzpolitischen Verantwortung – weil unser Staat im Übrigen durch die -Entwicklung, die Sie zugelassen haben, immer mehr an ergänzendem Arbeitslosengeld II für aufstockende Leistung zahlen muss –

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das Aufstocken hat doch die SPD mit Generalsekretär Heil eingeführt!)

und aus Gründen eines fairen Wettbewerbs in der Marktwirtschaft brauchen wir auch den gesetzlichen Mindestlohn in diesem Land.
Lassen Sie mich abschließend sagen: Die ordnungspolitische Vorstellung, die hinter Ihrer Vorstellung steckt, Herr Kolb, mit Staatsgeld Lohnbewirtschaftung über aufstockende Leistungen zu gewähren, hat mit marktwirtschaftlichem Verständnis nichts zu tun und mit liberaler Politik schon gar nichts.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Das lassen Sie sich einmal sagen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die SPD hat’s gemacht!)

Das ist eine Form von Subventionsmodell, die Sie eingeführt haben. Die anständigen Menschen in diesem Land, die ordentlich Steuern zahlen, müssen nach Ihrem Modell Niedriglöhne durch Steuerzahlungen aufstocken. Das ist finanzpolitisch unsinnig, das ist ordnungspolitisch fragwürdig, und das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie wollen das französische Modell!)

Ich sage meinen Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU – die Hoffnung auf die FDP habe ich an dieser Stelle nicht –: Ich habe mit Interesse verfolgt, was Sie auf Ihrem Parteitag diskutiert haben. Ich habe die Hoffnung gehabt, dass man zu Ihnen mit Schiller – Wallenstein, erster Aufzug, erster Akt – sagen kann: Spät kommt Ihr – doch Ihr kommt! – Ich habe mir dann allerdings anschauen müssen, was Sie tatsächlich entwickelt haben. Dazu kann ich Ihnen sagen: Mit Mindestlohn hat das, was Sie vorschlagen, wirklich nichts zu tun.

(Maria Michalk [CDU/CSU]: Doch!)

Das ist weiße Salbe, die Sie hier vor der Wahl verteilen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Offensichtlich müssen Sie erst Wahlen verlieren, um dazuzulernen.
Morgen wird der Bundesrat über eine Initiative von Rheinland-Pfalz mit Unterstützung der großen Mehrheit der Länder Ihnen die Gelegenheit geben, sich zu bekennen: Wollen Sie einen gesetzlichen Mindestlohn, ja oder nein? Alles andere ist Spiegelfechterei. Ich bitte Sie: Geben Sie sich einen Ruck! Sie haben sich auch in anderen Positionen an sozialdemokratische Politik angepasst. Auch in diesem Punkt besteht dazu Gelegenheit.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)