Rede von Hubertus Heil zur soziale Situation der Kinder in Deutschland


Vizepräsident Eduard Oswald:

Vielen Dank, Kollege Dr. Peter Tauber. – Nächster Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialdemokraten unser Kollege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Anmeldung der Aktuellen Stunde unter diesem Titel und die Rede meines geschätzten Vorredners kann ich nur mit einem Wort bezeichnen. Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn wir über Kinderarmut in Deutschland sprechen und Sie sich hier einen peinlichen Akt der Selbstbeweihräucherung leisten, dann kann ich das nur zynisch finden.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Was wir hier erleben – –

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Was war denn bei euch? 5 Millionen Arbeitslose und Kinder in Armut! So war es bei SPD und Grünen! – Gegenruf von der SPD: Getroffene Hunde -bellen! – Weitere Zurufe)

Vizepräsident Eduard Oswald:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Kollege Hubertus Heil hat das Wort.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Dann reden wir mal über die Sache!
Tatsache ist: Wir haben eine demografische Entwicklung, die dazu führt, dass es weniger Kinder in diesem Land gibt, und Sie feiern sich dafür, dass durch diesen statistischen Effekt weniger Kinder in der Armutsfalle hocken. Tatsache ist: Ja, wir haben drei Jahre Aufschwung gehabt, eine gute konjunkturelle Entwicklung. Dafür haben wir die Grundlagen geschaffen, nicht Sie. Aber Sie können doch nicht so tun, als sei man auf dem besten Weg, Kinderarmut in diesem Land als Problem zu lösen!
Wenn Sie für solche Aktuellen Stunden, um sich selbstbeweihräuchernd auf die Schultern zu klopfen, immer irgendwelche Statistiken heranziehen, dann lesen Sie doch auch einmal Ihre eigenen Berichte, zum -Beispiel den Bildungsbericht der Bundesregierung! Ich zitiere: In Deutschland gehören 20 Prozent der Jugendlichen zu den Bildungsverlierern. Jeder fünfte Schüler ist ein schwacher Leser und kann Texte nicht ausreichend verstehen.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Vor allem in den SPD-regierten Ländern, nicht in Bayern!)

Der Bildungsbericht nennt dafür auch Gründe. Fast jedes dritte Kind in Deutschland wächst in sozialer, -finanzieller und kultureller Risikolage auf. – Das ist -Kinderarmut, meine Damen und Herren!

(Sibylle Laurischk [FDP]: Sie sind doch in den Ländern zuständig! – Patrick Meinhardt [FDP]: Was ist in Ihren Ländern? – Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist SPD–Bildungspolitik!)

Lesen Sie den Armuts- und Reichtumsbericht – Ihren eigenen Armuts- und Reichtumsbericht! – und versuchen Sie nicht, den Menschen etwas vorzumachen! -Lesen Sie den Armuts- und Reichtumsbericht! Ja, es ist richtig: Wir reden nicht über die Armut in Bangladesch oder in Afrika, sondern über eine Armut gemessen am mittleren Lebensstandard unserer Gesellschaft in einem reichen Land; gar keine Frage. Wir reden über materielle Armut, vor allen Dingen dadurch, dass Eltern wenig Geld verdienen, obwohl sie arbeiten. Wir reden natürlich auch darüber, dass es eine Armut an Lebenschancen und Perspektiven gibt. Die soziale Herkunft entscheidet in Deutschland stärker als in anderen entwickelten Ländern über die Bildungs- und Lebenschancen von Kindern. Das, meine Damen und Herren, lässt sich auch nicht durch eine noch so schöne Selbstbeweihräucherung dieser Bundesregierung vom Tisch wischen.
Deshalb sage ich noch einmal: Sie sollten hier ein Jahr vor der Bundestageswahl nicht Reden halten, mit denen Sie sich selbst beweihräuchern, sondern Sie sollten das tun, was Sie tun können. Sie könnten beispielsweise einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland einführen, damit Kinder nicht erleben müssen, dass ihre Eltern Vollzeit arbeiten, aber von der Arbeit nicht leben können.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE] – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

Herr Präsident, muss man sich in diesem Parlament als Heuchler bezeichnen lassen, wenn man anderer Meinung ist als dieser Kollege?

Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege, Sie – –

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Ich finde, das ist eine Art der Sprache, die nicht in Ordnung ist. Sie zeigt eher Ihre Nervosität und Ihr schlechtes Gewissen, weil Sie nicht das Richtige gegen Kinderarmut tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jemand, der anderer Meinung ist als Sie, ist ein Heuchler. Das halte ich für ein interessantes Demokratieverständnis einer Partei,

(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Sie sind heute aber peinlich dünnhäutig! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Erst austeilen und dann nicht einstecken können!)

die gestern noch gesagt hat, dieses unsinnige Betreuungsgeld werde sie nie mitmachen, und heute vor dem Koalitionspartner eingeknickt ist.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Fernhalteprämie von Frauen vom Arbeitsmarkt und von Kindern von den Bildungschancen ist das, was Sie in der Realität organisieren. Sie verschlimmern die soziale Spaltung zulasten von Kindern in diesem Land,

(Patrick Meinhardt [FDP]: Sie sind ein -Spalter!)

weil Sie den Mindestlohn verweigern und Maßnahmen gegen den Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit verhindern.
Ich sage Ihnen eines: Die Armut von Kindern ist in erster Linie der Erwerbsarmut der Eltern geschuldet. Da könnten Sie etwas tun. Das tun Sie aber nicht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie könnten mehr für die frühe und individuelle Förderung von Kindern tun, indem Sie in die frühe und individuelle Förderung von Kindern mehr investieren, anstatt diese unsinnige Herdprämie auszureichen.

(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Peinlich dünnhäutig sind Sie! – Sibylle Laurischk [FDP]: Absolut polemisch!)

Meine Damen und Herren, eine Bundesregierung, die in diesem Bereich wirklich nicht vorankommt und eine Statistik heraussucht, die möglicherweise etwas mit konjunkturellen und demografischen Effekten zu tun hat, aber nichts mit der Arbeit dieser Bundesregierung, muss auch im Interesse der Kinder dieses Landes im nächsten Jahr dringend abgelöst werden.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:
Vielen Dank, Kollege Hubertus Heil. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, in dieser Debatte geht es auch um die Zukunft der Kinder. Das sollten wir bei unserer Diskussion berücksichtigen. Auch bei den Zwischenrufen sollte man immer in sprachlicher Hinsicht Vorbild sein. Dies will ich entsprechend zu manchem Zwischenruf sagen.