Buchrezension zu „Vorsorge und Inklusion – Wie finden Sozialpolitik und Gesellschaft zusammen?“ von Wolfgang Schroeder
Wenn sich Wolfgang Schroeder in der Sozialstaatsdebatte zu Wort meldet, dann lohnt es sich, aufmerksam zu sein. Denn nur Wenige betrachten das Thema so fundiert und aus unterschiedlichen Perspektiven wie er. Sein neues Buch Vorsorge und Inklusion – Wie finden Sozialpolitik und Gesellschaft zusammen? veröffentlicht er als Staatssekretär im Brandenburger Arbeits- und Sozialministerium. Dabei kann sich Schroeder auch auf seine Erfahrung als Leiter der Abteilung Sozialpolitik beim Vorstand der IG Metall, als langjähriges Mitglied der SPD-Grundwertekommission und als Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel stützen. Mit diesem Erfahrungsschatz aus Wissenschaft, Politik und Praxis ist er seit Jahren Vordenker des Vorsorgenden Sozialstaats in der Programmatik der sozialen Demokratie. Auch mit seinem neuen Buch setzt er wichtige Impulse für die Sozialstaatsdebatte.
Wolfgang Schroeder beginnt mit einer differenzierten und sachkundigen Bestandsaufnahme der ökonomischen und sozialen Situation in Deutschland. Die exportorientierte, industrielle Basis der deutschen Volkswirtschaft ist äußerst erfolgreich. Die Bundesrepublik hat sich seit 2003 vom europäischen Sorgenkind zum OECD- Musterknaben entwickelt. Selbst die gravierende Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 hat Deutschland bisher besser als die meisten anderen Länder verkraftet. Die Arbeitslosigkeit ist auf dem niedrigsten Stand seit langem. Aber der Autor diagnostiziert auch neue Herausforderungen, auf die Politik und Gesellschaft in Deutschland mit einer gewissen Hilflosigkeit reagieren. Die soziale Schere öffnet sich immer weiter und Aufstiegsmöglichkeiten – vor allem aus den unteren Arbeitsmarktsegmenten – versiegen zusehends. Auch die Einbettung der wirtschaftlichen Akteure in gesellschaftliche Verantwortung hat abgenommen: »Nicht zuletzt getragen von Generationswechseln an Unternehmensspitzen, wurden neue Führungs- und Unternehmenskulturen eingeführt. Zeichneten sich jene Firmeninhaber und Manager, die den Aufbau der deutschen Nachkriegswirtschaft miterlebten, dadurch aus, dass sie Verantwortung für den lokalen, regionalen und nationalen Raum übernahmen, so ist dieses Bewusstsein mit dem Stabwechsel an ihre Kinder und Enkel sukzessive zurückgegangen«, schreibt Schroeder. Sinnbildlich für diese Probleme ist für ihn eine grassierende »Geiz ist geil«-Mentalität, die unter anderem einen enormen Druck auf die Löhne und Gehälter ausgeübt hat. Eine mögliche Wende zeichnet sich allerdings durch den demografisch bedingten Fachkräftebedarf ab. Dadurch besteht die Chance für eine erneute Konzentration auf qualitativ hochwertige Produkte und Dienstleistungen, die Deutschland dringend braucht: »Durch Zeitkonten, Initiativen zur guten Arbeit, neue verbindliche Angebote zur Gesundheitsförderung und Weiterbildung sowie vielfältige Initiativen, um Beruf und Familie besser zu verknüpfen, hat sich in einigen Betrieben bereits eine neue Unternehmenskultur herausgebildet, die auf Qualität und Kooperation setzt.« Soziale Verantwortung von Unternehmen und deren ökonomischen Interessen sind durchaus vereinbar, wenn die Politik dafür einen Rahmen schafft.
Vorsorgender Sozialstaat
Wolfgang Schroeder möchte die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nicht zurückdrehen, sondern stärker auf die individuellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse abstimmen. Notwendig ist eine stärker lebenslagenbezogene Gestaltung von arbeits- und sozialpolitischen Herausforderungen.
Klammer seiner Gedanken ist seine Konzeption des »Vorsorgenden Sozialstaates«. Der Anspruch des Politikwissenschaftlers an diesen ist hoch: »(Er) soll Armut verhindern und soziale Gerechtigkeit stärken. Menschen sollen so früh wie möglich gefördert werden und zwar unabhängig von den finanziellen und kulturellen Möglichkeiten ihrer Familien … vorsorgende Sozialpolitik (ist) ein Angebot für alle Lebensalter vom Kleinkind bis zum Greis.« Das bedeutet einen Paradigmenwechel, aber keinen Systemwechsel: Wolfgang Schroeder schreibt, dass die Grundarchitektur des deutschen Sozialstaates in seinen Fundamenten solide ist und einen Rahmen für neue innovative Politik bietet. Eine Reform ist jedoch so komplex und keinesfalls »auf dem Bierdeckel« zu konzeptionieren, sondern als langfristiges Projekt Stück für Stück weiterzuentwickeln und umzusetzen.
Leitbild des vorsorgenden Sozialstaats ist die inklusive Arbeitsgesellschaft: Möglichst jeder in unserer Gesellschaft soll aus eigener Kraft gut leben können. Den Schlüssel für möglichst breite Partizipation an Erwerbsarbeit sieht Schroeder in der Bildung: Vom vorschulischen über den schulischen Werdegang bis zum Übergang von der Schule in den Beruf soll ein erfolgreiches Bildungssystem Vorsorge treffen und dabei auch teuren Übergangssystemen und Arbeitslosigkeit vorbeugen. Langfristig sollen damit soziale Folgekosten durch frühzeitiges Investieren in Menschen vermieden werden. Dafür muss aber die kurzfristig gedachte Kosteneffizienzlogik durch eine
längerfristig ausgerichtete Orientierung an der Wirksamkeit, den Aufstiegschancen und der Verbesserung der Lebensqualität abgelöst werden.
Zentraler Bestandteil seines Konzeptes des Vorsorgenden Sozialstaates sind Netzwerke: »Damit der Vorsorgende Sozialstaat wirken kann, muss er Netzwerke initiieren und unterstützen. Wir brauchen einen Kooperativen Sozialstaat, der neben der Verbindung der Menschen mit den Institutionen auch die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Institutionen verbessert.« Als Beispiel nennt Wolfgang Schroeder die Bildungspolitik als ein zentrales Fundament des Vorsorgenden Sozialstaates. Der Autor stellt aber ein Paradox fest: Bei der Analyse der deutschen Schulen zeichnet sich trotz mancher Bewegung noch zu wenig Veränderung ab. Schroeder zitiert das afrikanische Sprichwort, dass es eines ganzen Dorfes bedarf, um ein Kind aufzuziehen und stellt ernüchtert fest: »Schulen haben sich kaum gesellschaftlich geöffnet. Schulsozialarbeiter sind in der Regel dort, wo es sie gibt, eher isoliert. Und die Lehrer fühlen sich weiter unzuständig für soziales Schnittstellenmanagement. Eine isolierte Betrachtung der Bildungspolitik führt also vermutlich kaum zu strategischen Impulsen zugunsten einer Politik des sozialen Aufstiegs und der sozialen Integration.« Als Positivbeispiel erinnert Schroeder an die atemberaubende Reform der Berliner Rütli-Schule, die in kurzer Zeit von der Problemschule zur problemlösenden Schule wurde.
»Sozialstaatliche Akteure«
In späteren Lebensphasen bedarf es einer Kultur der zweiten und dritten Chance. Wolfgang Schroeder schlägt vor, die Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung, »die frei wählbare, auf einem individuellen Rechtsanspruch aufbauende Fortund Weiterbildungsmöglichkeiten anbietet«, weiterzuentwickeln. Dabei richtet der Autor den Scheinwerfer auch auf die Menschen, die er »sozialstaatliche Akteure« nennt und die zu wenig im Fokus der Debatte stehen. Zu ihnen zählen Erzieherinnen, Altenpflegerinnen, Sozialpädagoginnen, Lehrerinnen (in der weiblichen Form, denn meistens wird diese wichtige, aber selten gut bezahlte Arbeit von Frauen verrichtet). Für Wolfgang Schroeder sind diese Menschen die »Hoffnungsträger dafür, dass die vorsorgende Sozialpolitik gelingt«. Sie verdienen attraktive und professionelle Arbeitsbedingungen, sowie Wertschätzung und die Anerkennung für ihre Leistungen. Und das nicht nur, weil dies mehr als gerecht wäre, sondern auch um den Fachkräftemangel zu verhindern, der in dieser zentralen Säule vorsorgender Sozialpolitik schon jetzt droht. Wolfgang Schroeder benennt es klar: Der Dienst am Menschen darf kein Feld für Billiglohnpolitik und Schwarzarbeit sein. Er fordert deshalb die Förderung der sozialen Berufe aus einem Bündnis von öffentlicher Hand, Arbeitgebern, Tarifpartnern, Wohlfahrtsverbänden und Kirchen.
Wer sich damit auseinandersetzt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und wie wir unser Land sozial und ökonomisch weiterentwickeln müssen, sollte dieses Buch lesen.Wolfgang Schroeder läutet mit seiner Fokussierung auf Qualität, Vorsorge und Kooperation einen neuen Zyklus der Sozialstaatsdebatte ein. Er analysiert die Herausforderungen klar und mit Übersicht und entwickelt daraus praxisrelevante Handlungsfelder. Er macht dies in einer klaren und prägnanten Sprache, die auch für den politischen Praktiker schnell zu rezipieren ist. In den Welten Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, in denen sich Wolfgang Schroeder bewegt, wird er damit hoffentlich viel Gehör finden.