Rede von Hubertus Heil zum Fiskalvertrag und Europäischen Stabilitätsmechanismus

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Hubertus Heil ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe in den letzten Tagen und Wochen in den Diskussionen und Verhandlungen, die wir geführt haben, sehr viele Kolleginnen und Kollegen in verschiedenen Fraktionen erlebt, die sich diese Entscheidung außerordentlich schwermachen. Das sollte man auch einmal anerkennen. Ich erlebe viele, die jetzt, in den letzten Minuten und Stunden vor der Entscheidung, noch mit sich ringen, wie sie sich am Ende entscheiden werden, sowohl beim ESM als auch beim Fiskalpakt.
Ich will eines sagen: Es ist nicht schlecht für unser Parlament, dass wir es uns nicht leichtmachen. Aber es gibt auch welche von den politischen Rändern hier im Hause, meine Damen und Herren, die es sich verdammt einfach machen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Die Art und Weise, wie sich der Nationalismus von Herrn Schäffler mit dem Applaus der Linkspartei verbindet, ist bezeichnend.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zurufe von der LINKEN)

Die Frage, über die wir heute mit zu entscheiden haben, ist tatsächlich, ob man dazu steht, dass wir uns nicht nur auf den schwierigen, mühsamen Weg der Krisenbewältigung machen, sondern auch den Auftrag aus der Präambel unseres Grundgesetzes ernst nehmen, dafür zu sorgen, dass Deutschland „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ – es heißt: vereintes Europa – mitwirkt. Die Renationalisierung, der Zerfall Europas, ist das größte ökonomische und soziale Risiko, aber vor allen Dingen das größte Risiko für unsere Demokratie. Das gilt es abzuwenden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben verschiedentlich deutlich gemacht, dass wir im Moment, in diesem Sommer, in einer dramatisch schwierigen Situation sind, die auch nicht durch die Abstimmungen heute beendet wird. Das hat unterschiedliche Ursachen. Aber es ist auch klar geworden, dass Sie, Frau Merkel, mit der Art und Weise, wie Sie in den letzten drei Jahren, im Verlauf der Krise, mit den Dingen umgegangen sind, diese Krise mit verschärft haben. Wie war das denn mit den Ankündigungen am Anfang: „Kein Cent für Griechenland“? Nach den nordrhein-westfälischen Landtagswahlen waren es damals keine Cents, sondern Riesenpakete. Es hat Vertrauen gekostet, den Menschen etwas vorzumachen. Später kam es dann anders und dicker.
Wie war es denn, als der griechische Ministerpräsident Papandreou sein Volk befragen wollte und Herr Sarkozy und Frau Merkel ihm wie einem kleinen Schuljungen das verboten haben mit dem Ergebnis, dass wir in Griechenland, was die Akzeptanz von Strukturreformen betrifft, in ungemein schwieriges Fahrwasser geraten sind? Bis in die letzten Tage setzt sich das alles fort.
Aber der ökonomische Kinderglaube dieser Regierung ist der eigentliche Grund, warum wir in einer solch dramatischen Situation sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Der Glaube, dass man allein mit immer höheren Hilfskrediten und gleichzeitig harten Sparauflagen die Krise in Ordnung bringt, hat eine Tatsache über drei Jahre vernachlässigt, nämlich dass man Staatshaushalte nicht ohne wirtschaftliches Wachstum in Ordnung bringen kann.

(Beifall bei der SPD – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist wirklich lächerlich!)

Deshalb war und ist es richtig, dass wir das Wachstums-paket im Rahmen der Verhandlungen durchgesetzt haben.

(Zuruf des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])

Wir wollen Haushaltskonsolidierung, Herr Hinsken. Das ist nichts, worüber wir uns streiten müssen. Staatsfinanzen müssen in Ordnung gebracht werden, damit die Staaten nicht immer abhängiger von den Launen der Finanzmärkte werden. Aber wer glaubt, dass man mit -Rezession Haushalte in Ordnung bringen kann, vernachlässigt eines: Investitionen sind notwendig, um wirtschaftliches Wachstum zu erzeugen. Deshalb haben wir Gott sei Dank diesen Merkel’schen Weg in den Verhandlungen korrigiert.

(Beifall bei der SPD)

Ich habe die Verhandlungen geführt im Gegensatz zu dem, was Sie in den letzten Tagen so erzählt haben.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Heil, darf der Kollege Schäffler Ihnen eine Zwischenfrage stellen?

(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Muss das sein?)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Sehr gerne, Herr Schäffler.

Frank Schäffler (FDP):
Herr Kollege Heil, Sie haben mir vorgeworfen, ich hätte hier nationalistische Positionen vertreten.

(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Da hat er nicht zugehört, der Herr Heil!)

Ich will Ihnen sagen: Das Gegenteil habe ich vertreten. Ich habe für ein Europa der Vielfalt geworben, nicht für ein Europa der Einfalt. Sie wollen die Schulden in Europa sozialisieren. Das will ich nicht. Ich will ein Europa des Rechts, der Rechtsstaatlichkeit und der Freiheit. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben. Sie zerstören durch Ihre Politik Europa. Ich will ein lebendiges Europa der Vielfalt, und das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie vorhin gesagt haben.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Kollege Schäffler, bei allen Problemen, die wir haben, und bei aller Dramatik der Krise – in der Analyse, in der Einschätzung sind wir uns vielleicht einig, nämlich dass das im Moment eine Riesenbedrohung ist für unseren Kontinent. Eines aber will ich Ihnen sagen: Die Art und Weise, wie Sie über die europäische Einigung der letzten Jahre gesprochen haben, legt für mich den Verdacht nahe, dass Sie billigend in Kauf nehmen, dass Renationalisierung die Zukunft dieses Kontinents sein sollte.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Dazu sage ich Ihnen: Deutsche Sozialdemokraten haben seit den 20er-Jahren auch gegen Rechtsradikale für ein vereintes Europa gekämpft, für die Vereinigten Staaten von Europa. Es ist ein langer Weg, der vor uns liegt. Das ist übrigens ein Europa der Vielfalt, nicht der Einfalt, wie Sie unterstellen. Wenn Sie uns absprechen, dass wir für Rechtsstaatlichkeit eintreten, dann haben Sie von deutscher Geschichte keine Ahnung. Das nenne ich eine üble Verleumdung von jemandem, der hier Nationalismus predigt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Oder geht es Ihnen darum, Ihre Famous Fifteen Minutes zu haben? Auch der Verdacht liegt nahe. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten.
Ich habe viel Respekt vor Leuten, die hier aus ganz anderen Motiven nicht zustimmen können. Es gibt auch in unseren Reihen manche, die zweifeln, auch aus ganz ehrenwerten Motiven, was die Verfassungslage betrifft. Das ist zu klären. Aber ich sage Ihnen eines: Das, was Sie hier vorstellen, ist keine Lösung, sondern würde am Ende des Tages, wenn wir den ESM nicht beschließen würden, den Zerfall der Europäischen Währungsunion und damit eine Renationalisierung in Europa bedeuten. Begreifen Sie das nicht, oder wollen Sie das nicht begreifen? Das ist meine Frage an Sie, Herr Schäffler.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Schäffler, wir tragen nicht nur Verantwortung für unser Handeln. Dafür müssen wir alle vor unserem eigenen Gewissen einstehen – das will ich hier keinem -absprechen –, aber vor allen Dingen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Wir tragen aber auch Verantwortung für Nichthandeln. Das, was Sie anbieten, ist Nichthandeln, und Nichthandeln führt Europa nicht nach vorn, sondern zurück in die Krise. Das wollen wir nicht, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Schäffler, Sie haben vorhin große Geister zitiert. Max Weber hat drei Eigenschaften für gute Politiker angemahnt: die Bereitschaft zur Verantwortlichkeit, die Leidenschaft in der Überzeugung und das Augenmaß im Handeln. Ich spreche Ihnen nicht die Leidenschaft ab; aber den Beweis, dass Sie die Bereitschaft haben, Verantwortung zu übernehmen, sind Sie heute schuldig geblieben. Auch Augenmaß spricht nicht aus Ihrer Argumentation.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wir werden die Krise nur meistern, wenn wir eine leidenschaftliche Überzeugung als Europäer haben, wenn wir verantwortlich handeln und wenn wir das notwendige Augenmaß finden. Deshalb ist meine herzliche Bitte an all diejenigen, die noch mit sich ringen: Sagen Sie Ja, zu beiden Punkten. Das ist nicht leicht. Der Fiskalpakt alleine wäre untauglich, aber ergänzt um ein Wachstumspaket ist er zustimmungsfähig. Der ESM wird dringend gebraucht, sonst geschieht eine Katastrophe auf diesem Kontinent. Das dürfen wir nicht zulassen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)