Rede von Hubertus Heil zur Sicherung des Fachkräftebedarfs


Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Kollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Fachkräftesicherung wird zur zentralen ökonomischen, aber auch zur zentralen sozialen Frage des nächsten Jahrzehnts. Das weiß jeder, der sich mit der Entwicklung am Arbeitsmarkt auskennt. Aber, meine Damen und Herren, es ist wie so oft: Diese Bundesregierung – ähnlich wie beim Thema Energiewende, ähnlich wie bei der Bewältigung der Krise in Europa – unterschätzt die Bedeutung dieses Themas.

(Beifall bei der SPD)

Worum geht es? Es geht darum, angesichts der Veränderungen in der Demografie, die sich am Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren auswirken werden, zu begreifen, dass wir an einer Weggabelung stehen. Entweder wir lassen zu, dass der Arbeitsmarkt in Deutschland sich weiter spaltet, dass auf der einen Seite immer mehr Unternehmen händeringend qualifizierte Fachkräfte suchen und auf der anderen Seite viel zu viele Menschen durch Langzeitarbeitslosigkeit oder prekäre Arbeitsverhältnisse abgehängt werden, dass diese Spaltung sich also vertieft, oder wir nützen die Entwicklung dafür, dass der soziale Aufstieg in diesem Land wieder zum Thema wird, dass Menschen die Möglichkeit haben, teilzunehmen, dass wir uns einmal ein ambitioniertes Ziel vornehmen, nämlich dass Menschen in guter Arbeit sind und in 10 bis 15 Jahren in diesem Land wieder Vollbeschäftigung herrscht. Vor dieser Wahl stehen wir, wenn es um das Thema Fachkräftesicherung geht.
Und was tun Sie, meine Damen und Herren von der Koalition? Schöne Reden halten. Es gab im letzten Jahr einen Gipfel mit den Sozialpartnern – wenn Sie sich mit Leuten treffen, nennen Sie das immer „Gipfel“ – in Meseberg. Dort ist unverbindlich über dieses Thema geredet worden. Dieser Gipfel gibt aber keine Antwort auf die Frage, wie man die gemeinsame Kraftanstrengung zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und Politik gestaltet, um den Herausforderungen des Fachkräftebedarfs der Zukunft zu begegnen.
Wir dagegen schlagen vor, dass wir uns auf den Weg machen, die Chancen, die diese Entwicklung bietet, zu nutzen, um die Spaltung am Arbeitsmarkt zu überwinden. Dazu muss man sich das Potenzial der Menschen in diesem Land vergegenwärtigen, die wir dringend brauchen und denen wir eine Chance geben müssen, damit sie in diesem Land am Arbeitsleben teilhaben können. Die Zahlen liegen auf dem Tisch. Die Bundesagentur für Arbeit hat uns das ins Stammbuch geschrieben.
In erster Linie müssen wir die Frage beantworten, wie wir es schaffen, dass mehr junge Leute die Chance auf schulische Bildung, einen Schulabschluss und Ausbildung haben.

(Beifall bei der SPD)

In Deutschland verlassen Jahr für Jahr 65 000 Menschen die Schulen ohne schulischen Abschluss. Wenn wir nicht aufpassen, organisieren wir den Nachwuchs für Langzeitarbeitslosigkeit. Das können wir uns aber weder sozial noch ökonomisch leisten. Die Zahl der Ausbildungsabbrecher in diesem Land ist ein Problem. 1,5 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 20 und 30 Jahren haben keine berufliche Erstausbildung. Das Potenzial müssen wir heben. Dafür müssen wir die frühe und individuelle Förderung von Kindern und das längere gemeinsame Lernen in den Schulen durchsetzen. Das ist der Auftrag an die Bundesländer in Deutschland.

(Beifall bei der SPD)

Wir müssen uns aber auch um die kümmern, die schon einmal gescheitert sind. Wir brauchen eine Kultur der zweiten Chance. In diesem Zusammenhang ist es sträflich, dass die Bundeministerin von der Leyen, die jetzt nicht da ist, die Chancen der jungen Leute, die es von Haus aus schwer haben und den Einstieg bereits einmal verpasst haben, durch die Kürzungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik noch weiter verschlechtert. Das nenne ich fahrlässig. Das ist das Gegenteil von Fachkräftesicherung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die größte Ressource – auch das sagt die Bundesagentur für Arbeit – für die Fachkräftesicherung in unserem Land sind neben den jungen Menschen mit den Bereichen der schulischen Bildung, der Ausbildung und des Hochschulzugangs die Frauen in Deutschland.

(Beifall der Abg. Mechthild Rawert [SPD])

In diesem Land haben wir eine Generation von gut ausgebildeten jungen Frauen, besser denn je. Wenn man sich aber die Chancen für den beruflichen Einstieg und Aufstieg von Frauen ansieht, stellt man fest: Das ist unmöglich und nicht mehr zeitgemäß. Im Bereich der Erhöhung der Frauenerwerbsquote in diesem Land und des Arbeitsvolumens von Frauen, die unfreiwillig in der Teilzeitfalle stecken, liegt ein Riesenpotenzial. Und was macht diese Bundesregierung? Anstatt Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Interesse von Männern und Frauen zu verbessern, wollen Sie ein unsinniges Betreuungsgeld, eine Fernhalteprämie einführen, um Frauen vom Arbeitsmarkt und Kinder von der frühkindlichen Förderung fernzuhalten.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist das Gegenteil von Fachkräftesicherung.
Sie haben nicht begriffen, dass man gerade in guten Zeiten – in Deutschland sind wir in wirtschaftlich guten Zeiten – in die Zukunft investieren, dass man säen muss, um ernten zu können. Sie haben das nicht begriffen. Das betrifft vor allem die Chancen der Jugendlichen und die Chancen von Frauen.
Was ist das dritte große Potenzial? Es steckt in der Frage, ob wir es schaffen, dass die Menschen beschäftigungsfähig bleiben, dass Menschen über 55 Jahren nicht zum alten Eisen gehören und dass sie eine Chance zum Arbeiten haben. Wenn man das will, dann muss man gegen unwürdige, prekäre Arbeitsverhältnisse in diesem Land vorgehen,

(Beifall bei der SPD)

dann muss man den Gesundheitsschutz fördern und Weiterbildung betreiben. Auch da gibt es nur schöne Broschüren, warme Worte und keine konkreten Maßnahmen dieser Bundesregierung.
Wir schlagen Ihnen vor, mit diesem Thema anders umzugehen. Wir wissen, dass es vor allen Dingen die Aufgabe der Wirtschaft und der Unternehmen selbst ist, sich diesem Thema zu widmen, weil sie dringend qualifizierte Fachkräfte suchen. Viele kluge Unternehmen haben das schon begriffen und stellen sich darauf ein. Einige Unternehmen müssen in diesem Bereich noch viel nachholen. Wir müssen uns aber auch als Staat zusammen mit der Wirtschaft, den Tarifparteien, der Bundesagentur für Arbeit, den Wohlfahrtsverbänden und den kommunalen Spitzenverbänden diesem Thema zuwenden. Nach meiner festen Überzeugung wird nach wie vor unterschätzt, was in den nächsten Jahren an Risiken und Chancen auf uns zukommt. Um die Chancen zu nutzen und den Risiken entgegenzuwirken reicht es jedoch nicht aus, unverbindliche Gipfeltreffen zu organisieren, auf denen man über dieses Thema nach dem Motto „Es ist wichtig, dass man darüber geredet hat“ spricht. Wir werden zu konkreten Vereinbarungen kommen müssen. Bundesarbeitsminister Olaf Scholz hat im Jahr 2009 dazu die ersten Schritte getan. Die Allianz für Fachkräfte, die er auf den Weg gebracht hat, war der erste Schritt hin zu einer besseren Koordinierung zwischen den verschiedenen Akteuren.
Wir schlagen vor, dass wir einen Schritt weiter gehen. Wir wollen mit Ihnen darüber diskutieren, ob es nicht sinnvoll ist, in diesem Land einen „Rat für Fachkräftesicherung“ einzuführen. Dieser sollte hochkarätig angesiedelt sein, damit die Kompetenzen in den Ministerien nicht weiter verstreut sind, sich diese nicht weiter wechselseitig blockieren, lediglich Broschüren produzieren und am Ende des Tages unverbindliche Gespräche führen.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber nur ein anderer Name für Arbeitskreis!)

Damit können wir die Potenziale in diesem Land tatsächlich mobilisieren.
Noch etwas: Wenn ich die Verlautbarungen der Bundesregierung zum Thema Fachkräftesicherung lese, dann fällt mir auf, dass – zu Recht, gar keine Frage – sehr viel davon die Rede ist, dass wir mehr hochqualifizierte Akademikerinnen und Akademiker in diesem Lande brauchen. Dazu braucht man übrigens erhebliche Anstrengungen zwischen Bund und Ländern, was den Ausbau von Studienplätzen betrifft. Es müssen auch mehr Möglichkeiten geschaffen werden, dass Menschen auch ohne allgemeine Hochschulreife die Chance haben, aufsteigen zu können.
Ein Thema jedoch spielt bei Ihnen fast keine Rolle, nämlich die Notwendigkeit, in der Breite der Qualifikation, im Bereich der dualen Berufsausbildung voranzukommen. Sie unterschätzen diesen Standortvorteil. Auch hier gibt es keine Initiativen. Wir sagen Ihnen: Wir müssen umkehren und dafür sorgen, dass diese Fragen wieder zu einem großen Thema in der Politik werden, und zwar nicht nur im Hinblick auf das Reden, sondern vor allem im Hinblick auf das Handeln.

(Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Ich will Ihnen abschließend sagen: Es sind die zentralen Fragen unserer Zeit, die sich beim Thema Fachkräftesicherung bündeln. Es geht um die Fragen, ob wir wirtschaftlich erfolgreich bleiben, ob wir Vollbeschäftigung erreichen, ob wir es schaffen, dass die Generationen in diesem Lande, die sich im Altersaufbau verändern werden, gut zusammenleben, ob gleiche Bildungschancen für alle möglich sind, ob wir die Gleichstellung von Männern und Frauen durchsetzen und ob wir eine weltoffene, integrationsfähige Gesellschaft bleiben.
Das sind die Fragen, die sich in diesem Thema wie in einem Brennglas bündeln. Ich kann nur sagen: Es ist sträflich, dass die Bundesregierung diese wichtigen Fragen – wie bei der Energiewende, wie bei der Krise in -Europa – derart vernachlässigt.

(Zuruf von der FDP: Das ist abstrus!)

Wir setzen Konzepte dagegen, wir machen Vorschläge. Bewegen Sie sich auf uns zu. Das wäre gut für Deutschland.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)