Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache. Erster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Westerwelle! Als Sie vor einigen Tagen für heute eine Regierungserklärung zum Thema „Europas Weg aus der Krise: Wachstum durch Wettbewerbsfähigkeit“ angemeldet haben, hatte ich gewisse Hoffnungen. Ich wollte eigentlich sagen: Willkommen in einer Debatte über Europa, an der Sie zwei, drei Jahre nicht teilgenommen haben. Herzlich willkommen in einer Debatte über Wachstum, zu der Sie in den letzten Wochen und Monaten nichts beigetragen haben. – Und jetzt höre ich 26 Minuten lang nichts anderes als heiße Luft und Stanzen. Der Verdruss über Europa hat auch mit dieser Art von Reden zu tun, die Sie hier liefern.
(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Sie haben nicht zugehört! Sie haben zu viel mit Herrn Steinmeier geredet!)
Es war kein einziger neuer Gedanke und kein konkreter Vorschlag zu hören, sondern lediglich das Mantra von Guido Westerwelle zwei Tage vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl. Das ist der Grund für Ihre Regierungserklärung. Das ist aber keine Regierungserklärung von Guido Westerwelle. Das hätte eine Regierungserklärung der Bundesregierung sein sollen, die in diesem Punkt sträflich versagt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie uns einmal Klartext reden, Herr Westerwelle, über das, was Sie in den letzten zwei, drei Jahren unterlassen haben: Ihr Zögern und Zaudern, auch die Feigheit der Bundeskanzlerin, den Menschen die Wahrheit über das Ausmaß der Krise zu sagen, und die Unfähigkeit, Wachstumsinitiativen auf den Weg zu bringen, sowie der Glaube daran, dass man allein mit Hilfskrediten und kurzfristigen fiskalischen Auflagen Europa aus der Krise führen kann – dieser Weg ist es, der -Europa im Moment noch tiefer in die Krise führt, anstatt Europa herauszuführen.
(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Sie haben nicht zugehört!)
Wenn Sie uns nicht glauben, Herr Westerwelle, dann hören Sie wenigstens auf das, was Ihnen inzwischen die ganze Welt ins Stammbuch schreibt. Hören Sie auf Christine Lagarde, die Chefin des IWF. Hören Sie auf Bill Clinton, der sich zu diesem Thema geäußert hat. Hören Sie auf den Nobelpreisträger für Ökonomie, Paul Krugman, der Ihnen das ins Stammbuch geschrieben hat. Ja, Strukturreformen sind notwendig. Das ist gar keine Frage. Davon haben wir übrigens ein bisschen mehr Ahnung als diese Regierung; das will ich klar sagen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Aha!)
Ich sage Ihnen einmal etwas, Herr Brüderle: Dampfplauderreden, wie Sie sie hier halten, kann jeder. Wir hingegen haben uns darangemacht, schwierige und mutige Entscheidungen zu treffen, und das hat Deutschland gedient. Das waren wir und nicht Sie.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Rainer Brüderle [FDP]: August Bebel war es, Herr Heil!)
Jetzt will ich Ihnen etwas zu dem Popanz sagen, den Sie hier aufbauen: Es ist doch überhaupt gar keine Frage, dass Länder, die Probleme mit der Wettbewerbsfähigkeit haben, auch langfristig wirkende Strukturreformen brauchen. Das bezweifelt niemand. Es ist auch keine Frage, dass Europa Haushaltsdisziplin braucht. Die Staaten müssen unabhängiger werden von den Launen der -Finanzmärkte und ihrer Finanzierung. Ganz klar ist aber auch: Ohne Wachstumsperspektiven und wirtschaftliche Dynamik gelingt es nicht, die Haushalte zu konsoli-dieren, und Wachstum braucht Investitionen, Herr Westerwelle. Das ist in dieser Situation wichtig, aber das haben Sie nicht begriffen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Private und nicht öffentliche!)
– Private und öffentliche Investitionen; das sage ich Ihnen. – Das haben Sie nicht begriffen. Private Investitionen fallen nicht vom Himmel, zumal nicht in dieser Situation. Dafür braucht man mutige Politik und mutige Initiativen. Ich will Ihnen dazu gleich ein paar Vorschläge machen.
(Beifall bei der SPD)
Niemand bezweifelt – das sage ich noch einmal –, dass wir von der Staatsverschuldung in Europa heruntermüssen. Aber schon die Krisenanalyse, die Sie hier zimmern, stimmt so nicht.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das fängt bei den Ländern schon an!)
Ja, es gab Staaten, die fiskalisch weit über ihre Verhältnisse gelebt haben. Das ist Politikversagen. Aber es gab auch Staaten wie Irland und Spanien, wo es kein Politikversagen oder Haushaltsversagen gab, das zu einem Defizit führte. In Irland ist eine Finanzblase geplatzt, in Spanien eine Immobilienblase. Dann musste der Staat ins Obligo gehen und Banken retten. Das ist der Grund, warum diese Länder im Defizit sind. Dort hat nicht Politik versagt, sondern die Finanzkrise hat diese Länder in Schieflage gebracht. Das verschweigen Sie, weil es nicht in Ihr Weltbild passt.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vor Jahren haben Sie uns Irland noch als leuchtendes Beispiel genannt. Der keltische Tiger, die Zukunft der tollen Finanzmarktdienstleistungen, der Abschied von der Industrie – das war jahrelang das Mantra von Guido Westerwelle in diesem Parlament. Wohin das führt, können wir gerade in Irland beobachten.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wer hat denn die Hedgefonds in Deutschland eingeführt? Wer hat von der Deutschland AG gesprochen? Das wart ihr!)
Darüber müssen wir einmal reden. Herr Westerwelle, wir haben Ihre fünf oder sechs Punkte mit großer Aufmerksamkeit verfolgt,
(Patrick Döring [FDP]: Sehr aufmerksam!)
und wir haben festgestellt, dass Sie im Rahmen dessen, was man sich mit Copy and Paste an Überschriften aus europäischen Papieren ziehen kann, einen großartigen Redenschreiber haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie uns jetzt über fünf konkrete Vorschläge reden. Ich willen wissen, wie sich diese Bundesregierung dazu verhält.
Erstens. Um öffentliche und private Investitionen zu bündeln, um Investitionsimpulse für Wachstum in -Europa zu generieren, schlagen wir Ihnen die Gründung eines Investitions- und Aufbaufonds vor, gespeist aus den Mitteln der europäischen Strukturhilfen – die da sind –, aus einer Umsteuerung bei der Strukturförderung im Agrarsektor, die in den Krisenländern zum Teil vollkommen falsch geleitet war – warum Sie dazu keinen Satz sagen, weiß ich nicht –, und dem Aufkommen einer -Finanztransaktionsteuer; das Wort fehlt bei Ihnen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Das hat er alles gesagt!)
Wir wollen nicht neue Schulden machen. Wir brauchen die Besteuerung der Finanzmärkte, um Wachstumsimpulse zu bekommen. Herr Westerwelle, da sind Sie der Bremser in Europa. Dass Frau Merkel hilflos in -Europa herumstrauchelt und sagt: „Privat bin auch ich irgendwie für eine Finanztransaktionsteuer, aber ich schaffe es nicht einmal, das in meiner eigenen Koalition durchzusetzen“, das zeigt, dass das Chaos von Schwarz-Gelb zum Problem für Europa geworden ist.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Also: Sind Sie für einen solchen Investitions- und Aufbaufonds, ja oder nein?
Zweitens. Sind Sie für die Beteiligung des Finanz-sektors? Sagen Sie doch einmal einen Satz dazu, was diese Bundesregierung auf dem nächsten europäischen Gipfel in Sachen Finanztransaktionsteuer auf den Weg bringen will. Die Chance ist jetzt nach der Wahl in Frankreich noch größer. Es gibt immer mehr Verbündete. Die Einzigen, die es nicht begriffen haben, sind die Menschen, die der FDP angehören.
Drittens. Sie haben erfreulicherweise – vielleicht hat Herr Hoyer, der neue Chef der Europäischen Investitionsbank, Ihrem Redenschreiber das zugearbeitet – die Europäische Investitionsbank als ein wesentliches Instrument genannt, um private und öffentliche Investitionen zu mobilisieren – vollkommen d’accord –, aber Sie haben keine Idee, wie Sie die Europäische Investitionsbank als Instrument in dieser Situation stärken können, um öffentliche und private Investitionen miteinander zu verbinden. Herr Westerwelle, sind Sie bereit, den Menschen in Deutschland offen zu sagen, dass das nicht geht, wenn man nicht die Möglichkeiten der Europäischen Investitionsbank, zum Beispiel durch die Erhöhung des Stammkapitals der Mitgliedstaaten, ausbaut?
Viertens. Sie haben sehr nebelig davon gesprochen, dass man auch innovative Möglichkeiten der Public-Private-Partnerships zur Finanzierung von Infrastruktur nutzen soll. Was meinen Sie eigentlich damit? Meinen Sie das Instrument der Projektanleihen? Das ist ein gutes Instrument. Meinen Sie die Möglichkeit, dass wir öffentliches und privates Kapital in die Netze investieren, in die Telekommunikationsnetze, in Energienetze und in Verkehrswege? Dann sagen Sie das. Aber Sie haben doch Projektbonds schon fast wieder ausgeschlossen. Sie sagen den Menschen nicht, dass wir das brauchen, um diese Investitionen in diesem Land tatsächlich zu hebeln.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Lesen Sie doch unseren Beschluss!)
Nein, Sie sind jemand, der morgen schon wieder fressen muss, was er gestern ausgeschlossen hat.
Ich sage ihnen – fünftens – auch: Mich hat richtig enttäuscht,
(Zurufe von der FDP: Oh!)
dass Sie neben den Weihrauchreden über Europa mit den gestanzten Formeln, die in Europa keiner mehr hören kann und die das Vertrauen untergraben, nicht einen Satz zur Jugendarbeitslosigkeit in den Defizitländern gesagt haben. Sie sprechen von Herz und Leidenschaft. Ihnen fehlt aber jegliche Empathie mit den jungen Menschen im Süden Europas, die keine Perspektive haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ihnen fehlt jede Idee für ein Sofortprogramm zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, das wir fordern. Wenn in Spanien jeder dritte junge Mensch arbeitslos ist, wenn die Jugendarbeitslosigkeit in Griechenland bei fast 50 Prozent liegt, dann kann man nicht dabei zugucken, dass eine ganze verlorene Generation perspektivlos ist.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Dann muss man den Arbeitsmarkt deregulieren!)
Dann brauchen wir auch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen. Dass Sie dazu konkrete Vorschläge machen, hätten wir erwartet.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Unter Strukturreformen, Herr Westerwelle, verstehen Sie höchstens die Deregulierung des Taxigewerbes in Griechenland. Das hat mit wirtschaftspolitischem Sachverstand nichts zu tun. Ich sage Ihnen: Der fehlende Mut dieser Regierung, der fehlende Mut von Angela Merkel und Guido Westerwelle,
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
hat Europa schon Schaden zugefügt.
(Joachim Spatz [FDP]: So ein Quatsch!)
Die Realität wird aber in diesem Sommer über Sie hinweggehen. Dessen bin ich mir sicher.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Rainer Brüderle [FDP]: Tatütata! Heil bringt Unheil!)