Rede von Hubertus Heil zur Industriepolitik für den Standort Deutschland


Präsident Dr. Norbert Lammert:

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Deutschland verfügt über eine starke industrielle Basis. Deutschland ist ein erfolgreicher Wirtschaftsstandort, eine erfolgreiche Industriegesellschaft. Das ist kein Zufall. Ich kann mich sehr gut erinnern, wie das vor 15 Jahren am Ende der Regierungszeit Kohl Ende der 90er-Jahre war, als Wirtschaftsmagazine aus dem In- und Ausland die deutsche Volkswirtschaft quasi als „kranken Mann Europas“ darstellten. Dass wir heute besser dastehen, ist kein Wunder und kein Zufall, sondern Ergebnis harter Arbeit wie auch schmerzhafter Strukturreformen in der rot-grünen Zeit, die aber richtig waren, damit Deutschland vorankommen konnte. Dazu bekennen wir uns.

(Beifall bei der SPD)

Dass wir eine breite Wertschöpfungskette von der Grundstoffindustrie über den industriellen Mittelstand bis hin zu den kleinen Hightechschmieden haben, ist kein Zufall, sondern vor allen Dingen das Ergebnis von fleißiger Hände Arbeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich eingesetzt haben, von klugen Unternehmern, die die richtigen Entscheidungen getroffen haben, von erfindungsreichen Ingenieuren, Forschern und Technikern in diesem Land.
Darauf können wir stolz sein in Deutschland. Das ist Grund zu Selbstbewusstsein, aber es ist mitnichten ein Grund zu Selbstzufriedenheit oder gar zu Überheblichkeit. Denn wir stehen in den nächsten Jahren vor erheblichen Herausforderungen. Deshalb ist es kein Grund – das richtet sich an die Bundesregierung –, sich auf den Erfolgen der Vorgängerregierungen auszuruhen und die Hände tatenlos in den Schoß zu legen.
Wir stehen vor erheblichen Herausforderungen. Sie werden anstrengend. Wir können sie meistern, aber dafür müssen jetzt richtige Entscheidungen getroffen werden.
Was sind die Herausforderungen? Das ist erstens der veränderte Altersaufbau bzw. die demografische Entwicklung in diesem Land. Immer mehr vertieft sich zurzeit die Spaltung des Arbeitsmarktes. Auf der einen Seite suchen immer mehr Unternehmen händeringend Fachkräfte. Auf der anderen Seite sind viel zu viele Menschen in Deutschland abgehängt und ausgeschlossen.
Während wir beispielsweise dafür sorgen müssen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Deutschland vorankommt und die Frauenerwerbsquote in diesem Land steigen kann, reichen Sie ein wirtschaftlich und gesellschaftspolitisch unsinniges Betreuungsgeld aus: eine Fernhalteprämie vom Arbeitsmarkt für Frauen. Das ist der falsche Weg.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE])

Beim Thema Fachkräftesicherung fehlt Ministerin von der Leyen schlicht und ergreifend ein Konzept. Außer Spesen nichts gewesen. Ein Showeffekt in Meseberg: Das war alles. Es gibt kein Konzept. Genau das vermisst die Wirtschaft in Deutschland zu Recht. Ein Konzept zur Fachkräftesicherung? Fehlanzeige bei dieser Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD)

Die zweite große Herausforderung, vor der das Industrieland Deutschland steht, ist der nach wie vor rasante technische Wandel. Er bleibt nicht stehen. Darauf müssen wir uns einstellen, sowohl bei Qualifizierung und Bildung, Ausbildung und Weiterbildung als auch vor allen Dingen dadurch, dass wir in diesem Land eine Forschungs- und Innovationspolitik betreiben, die die Chancen des technischen Wandels für gute Arbeitsplätze in einer stärker wissensbasierten Wirtschaft nutzt.
Wo ist denn Ihr Konzept zur steuerlichen Forschungsförderung, das Sie groß angekündigt haben, geblieben? Was ist mit dem Anreiz, mehr private und öffentliche Investitionen zu verbinden, um Innovationen in diesem Land voranzubringen?
Nein, meine Damen und Herren, Sie setzen die falschen Schwerpunkte. Wir müssen in Deutschland auf die besten Produkte, Verfahren und Dienstleistungen setzen. Das erreichen wir nur mit einer anderen Forschungs- und Qualifizierungspolitik, aber nicht mit immer niedrigeren Löhnen.

(Beifall bei der SPD)

Eine der größten Herausforderungen ist – das machen Gespräche mit Unternehmern in Deutschland deutlich – eine saubere, versorgungssichere und bezahlbare Energieversorgung. Wir haben gestern im Deutschen Bundestag leidenschaftlich darüber diskutiert.
Die Art und Weise, wie diese Bundesregierung, namentlich die sich blockierenden Minister Röttgen und Rösler,

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist er überhaupt?)

die Energiewende in diesem Land vor die Wand fährt, ist das größte Standortrisiko für die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn Sie mir nicht glauben, dann hören Sie zumindest auf Herrn Keitel, den BDI-Präsidenten, der diese Bundesregierung geradezu leidenschaftlich auffordert, sich endlich der Umsetzung der Energiewende zuzuwenden. Wenn Sie mir nicht glauben, dann glauben Sie Ihrem Kommissar Oettinger, der auf die schöne Frage, was er zurzeit zur deutschen Energiepolitik sagt, antwortet: Welche Energiepolitik?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Weder beim Netzausbau noch bei der Integration erneuerbarer Energien und der Planungs- und Investitionssicherheit für die Modernisierung des Kraftwerksparks und den Bau neuer Kraftwerke kommen wir voran, weil Sie die Entwicklung verschlafen haben und Ihr Zickzackkurs die Versorgungssicherheit in Deutschland bei der Energieversorgung gefährdet. Ein Industrieland wie Deutschland braucht sichere, saubere und bezahlbare Energie. Auch da versagt diese Bundesregierung. Sie haben keinen Masterplan zur Umsetzung der Energiewende.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE] und Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Last, but not least: Neben der Demografie, neben dem technischen Wandel und neben den Themen Energiewende und Ressourcenknappheit ist es vor allem die internationale Verflechtung unserer Volkswirtschaft, die wir im Blick haben müssen; zum einen, weil aufstrebende Industriemächte in anderen Ländern die Konkurrenz verschärfen werden und weil wir im internationalen Wettbewerb mit China, Brasilien, Indien und auch Russland mithalten müssen. Zum anderen müssen wir eines im Blick haben: Es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen, weil es Deutschland dauerhaft wirtschaftlich nicht gut gehen kann, wenn es dem restlichen Europa schlecht geht. 60 Prozent unserer Exporte gehen in die Europäische Union, 40 Prozent gehen in die Euro-Zone. Deshalb ist es nicht richtig, zu glauben, dass wir die Krise im Euro-Raum lösen können, indem wir einfach nur Hilfskredite ausreichen und gleichzeitig harte fiskalische Auflagen machen.
Wir brauchen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa eine Stärkung der industriellen Basis unseres Kontinents. Wir brauchen eine Stärkung der realen Wertschöpfung und nicht der Finanzwirtschaft. Dafür braucht man Geld, das ist keine Frage. Da wir auch in Deutschland die Schulden nicht weiter nach oben treiben dürfen und auch hier Haushaltskonsolidierung betreiben müssen, sage ich Ihnen: Wir brauchen das Aufkommen aus einer Finanztransaktionsteuer, um ein solches europäisches Aufbauprogramm auch in den nächsten Jahren schultern zu können.

(Beifall bei der SPD)

Wir alle erinnern uns an den Satz von Bill Clinton: „It’s the economy, stupid!“ Man muss diesen Satz heute abwandeln. Im Zuge der Finanzkrise muss man sagen: „It’s the real economy, stupid!“ Es ist die Realwirtschaft, also die reale Wertschöpfung, die ein Land erfolgreich macht. Das ist die gute deutsche Erfahrung.
Zu den 5 Millionen Arbeitslosen sage ich Ihnen: Sie sind das Ergebnis der Politik von Helmut Kohl und wurden uns damals von Schwarz-Gelb hinterlassen. Wir haben den Reformstau aufgelöst.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)

Sie erschaffen in Deutschland gerade einen neuen Reformstau. Ich sage Ihnen: Ab 2013 wird es für uns viel Arbeit geben, damit Deutschland ein erfolgreiches Industrieland bleibt und wir im produzierenden Gewerbe und im Mittelstand durch industriebezogene Dienstleistungen und auch durch soziale Dienstleistungen Wertschöpfung haben. Hier sind jetzt die Weichen zu stellen.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Deshalb braucht Deutschland Impulse für ein industriepolitisches Konzept. Dieses Konzept, das wir heute vorlegen, fehlt Ihnen.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)