Rede von Hubertus Heil zum gesetzlichem Mindestlohn

Vizepräsidentin Petra Pau:
Wir setzen die Aussprache fort. Das Wort hat der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn man in Zeiten wie diesen im Deutschen Bundestag in einer öffentlichen Debatte redet, dann taucht immer wieder ein Begriff auf, der im Hinblick auf das Vertrauen der Menschen in demokratische Politik so etwas wie die knappste Ressource zu sein scheint, nämlich der Begriff der Glaubwürdigkeit. Willy Brandt hat einmal gesagt, wie Glaubwürdigkeit entsteht: Man muss sagen, was man tut, und tun, was man sagt. Deshalb tun wir Sozialdemokraten das, was wir sagen, und legen heute diesem Haus in zweiter und dritter Lesung unseren Gesetzentwurf zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vor.
Herr Weiß, ich finde, das ist ein Unterschied zu dem, was Sie hier geboten haben. Bei Ihnen klaffen Reden und Handeln meilenweit auseinander. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Viel über den Mindestlohn zu schwadronieren, aber keinen Gesetzentwurf vorzulegen, das ist kein Ruhmesblatt.
Wir schlagen vor, in Deutschland einen existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, damit Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit auch leben können. Der Gesetzentwurf, den wir heute beraten, gibt Gelegenheit, die Lebenssituation von über 5 Millionen Menschen in Deutschland zu verbessern, von 16 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die bisher weniger als 8,50 Euro in der Stunde verdienen. Unter dem Strich helfen wir damit nicht nur den Menschen – das alleine wäre bereits ein Grund, dem Gesetzentwurf heute zuzustimmen –, sondern auch den öffentlichen Kassen und somit der Gesellschaft insgesamt.
Eine Studie des renommierten Prognos-Instituts hat nachgewiesen, dass die fiskalischen, die finanzpolitischen Wirkungen der Einführung eines Mindestlohns für die öffentlichen Haushalte zu einem Plus von 7 Milliarden Euro führen würden, und zwar durch steigende Erwerbseinkommen für private Haushalte und damit steigende Steuer- und Beitragseinnahmen, durch eine Stärkung der Binnennachfrage, was gerade in Zeiten wie diesen sehr wichtig ist, und nicht zuletzt durch sinkende Sozialausgaben.
Angesichts der Tatsache, dass sich immer mehr Menschen trotz Vollzeitarbeit ergänzend Arbeitslosengeld II vom Amt abholen müssen, sagen wir: Es muss Schluss damit sein, dass wir immer mehr Armutslöhne in diesem Land mit Steuergeldern aufstocken müssen. Das darf nicht sein; das wollen wir beenden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den bisherigen Regierungsfraktionen, ein Mindestlohn ist auch ordnungspolitisch geboten, weil es um fairen Wettbewerb geht, weil wir die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die ihre Leute anständig bezahlen wollen, vor Dumpingwettbewerb schützen wollen. Es muss um den Wettbewerb um die besten Produkte, Verfahren und Dienstleistungen gehen; es darf nicht um die niedrigsten Löhne in Deutschland gehen.

(Beifall bei der SPD)

Wir haben uns angehört, was Herr Weiß vorhin gesagt hat. Herr Weiß, bei allem gebotenen Ernst: Ich nehme Ihnen persönlich ab, dass Sie Gutes wollen; das unterstelle ich Ihnen in dieser Frage. Ich sage Ihnen: Wir müssen uns in den Wahlkämpfen, auch im kommenden Bundestagswahlkampf, nicht streitig mit dem Thema Mindestlohn auseinandersetzen; wir müssen das nicht. Wir können – unsere Hand ist ausgestreckt – noch in dieser Legislaturperiode zu einer zureichenden Lösung kommen, zu einer vernünftigen Lösung, die den Menschen hilft. Ich will Ihnen sagen, was wir damit meinen:

Erstens. Wir wollen, wie auch Sie, den Vorrang der Tarifautonomie in Deutschland beibehalten. Wir wollen, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber in Lohnverhandlungen auf Augenhöhe Löhne festsetzen; das soll der Regelfall bleiben.

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Dann ziehen Sie mal sofort Ihren Antrag sofort zurück, Herr Heil!)

Zweitens. Wenn Mindestlöhne notwendig sind, wollen wir – das konstatieren Sie auch – einen Vorrang für branchenspezifische Mindestlöhne nach dem Tarifvertragsgesetz und dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Auch da könnten wir gemeinsam etwas machen: Wir könnten es erleichtern, dass tarifvertragliche branchenbezogene Mindestlöhne zustande kommen.
Ich will Ihnen eines sagen: Sie rühmen sich hier, zum 1. Januar in drei Branchen Mindestlöhne eingeführt zu haben. Ich kann mich ganz gut erinnern – die Kollegin Pothmer auch –, wie mühsam wir Ihnen diese Mindestlöhne in den Bereichen der Zeit- und Leiharbeit, des Sicherheitsgewerbes und der Weiterbildung in den Verhandlungen abringen mussten.

(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das stimmt!)

Ich sage Ihnen: Wir könnten es einfacher machen, indem wir das Arbeitnehmer-Entsendegesetz ändern und jeder Branche, die das will und kann, die Möglichkeit eines branchenspezifischen Mindestlohns nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz geben.

Vizepräsidentin Petra Pau:
Gestatten Sie eine Frage des Kollegen Wadephul?

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Bitte schön.

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
Herr Kollege Heil, ich bin geneigt, Sie ernst zu nehmen –

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Das kann ich nur wünschen.

(Zuruf von der FDP: Schon falsch!)

Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU):
– und auf Ihr Angebot einzugehen, gemeinsam darüber zu diskutieren. Das, was Sie gerade vorgetragen haben, findet sich aber sämtlich nicht in Ihrem Gesetzentwurf wieder. Werden Sie deshalb in dieser Debatte, bei diesem Tagesordnungspunkt Ihren Gesetzentwurf zurückziehen und damit gegebenenfalls ermöglichen, dass man zu gemeinsamen Regelungen kommt, oder werden Sie diesen Gesetzentwurf inkonsequenterweise zur Abstimmung stellen?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Kollege, ich bin Ihnen für diese Frage ausgesprochen dankbar, weil sie mir die Gelegenheit gibt, diesen Zusammenhang zu erläutern. Ich habe eben gesagt: Wir wollen einen Vorrang für tarifvertragliche Lösungen. Ich erwähne das, weil Herr Weiß das angesprochen hat und dabei insinuiert hat, unterstellt hat, wir würden die Tarifautonomie infrage stellen. Herr Wadephul, ich frage Sie an dieser Stelle einmal – die Frage ist offen –: Wären die Gewerkschaften in diesem Land für einen gesetzlichen Mindestlohn, wenn es stimmen würde, dass seine Einführung die Gewerkschaften schwächt?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/ CSU]: Das war nicht meine Frage!)

Deshalb ist der Zusammenhang klar.
Herr Wadephul, unser Vorschlag an Sie ist: Lassen Sie uns dafür sorgen, dass es einen Vorrang für tarifvertragliche Lösungen gibt, damit wir zu fairen Löhnen in Deutschland zurückkehren. Das wird durch unseren Gesetzentwurf nicht verunmöglicht; im Gegenteil: Er stärkt, wie ich gleich zeige, die Tarifautonomie. Wir wollen einen Vorrang für Mindestlöhne in einzelnen Branchen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz; sie sind schon jetzt möglich, aber wir wollen es einfacher machen. Ich sage Ihnen: Wir brauchen gleichwohl

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Sie müssen nur Ja oder Nein sagen!)

– diese Klarstellung müssen Sie sich gefallen lassen – eine verbindliche Lohnuntergrenze und einen gesetzlichen Mindestlohn. Das unterscheidet uns möglicherweise noch.

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ziehen Sie den Gesetzentwurf zurück!)
Wenn ich mir Ihren Antrag und Beschluss vom Parteitag in Leipzig anschaue, dann fällt mir Folgendes auf: Sie sagen, dass Sie einen Mindestlohn oder eine gesetzliche Lohnuntergrenze für die Bereiche wollen, in denen es keine Tarifverträge gibt. Ich sage Ihnen: Das ist schon heute über das Mindestarbeitsbedingungengesetz rechtlich möglich, nur funktioniert es leider nicht.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es werden überhaupt keine Anträge gestellt, Herr Heil! Stellen Sie sich das einmal vor! – Abg. Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU] nimmt wieder Platz)

– Herr Wadephul, bleiben Sie bitte stehen. Ich will die Frage,die Sie gestellt haben, beantworten. – Frau Präsidentin, ich finde es ein bisschen ungehörig, eine Frage zu stellen und sich dann hinzusetzen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber okay: So sind die Bürgerlichen im Moment.

(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Kein Anstand! Keine Moral!)

Herr Wadephul, ich sage Ihnen an dieser Stelle: Wir brauchen eine gesetzliche Lohnuntergrenze auch in den Bereichen, in denen die Tarifautonomie einfach nicht mehr funktioniert. Die berühmte Friseurin in Thüringen, die 3,18 Euro pro Stunde verdient, erhält diesen Lohn gemäß Tarifvertrag. Wir wollen die Lebenssituation dieser Menschen konkret verbessern. Deshalb brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn. Das gehört zusammen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unser Angebot steht: Sie von der Koalition können heute ein Stück Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, wenn Sie sich auf diesen Weg einlassen. Das werden Sie aller Voraussicht nach nicht tun, auch weil Ihr Koalitionspartner Sie wieder einmal an einem richtigen Schritt hindert. In diesem Zusammenhang muss ich der FDP an einer Stelle ausnahmsweise recht geben. Herr Kollege Vogel von der FDP, ich habe heute im Handelsblatt gelesen, dass Sie die Position der Union schön umschrieben haben: Sie verstünden nicht genau, was die Union in diesem Bereich wolle. Am Ende des Tages sei das ein kräftiges Jein der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in Sachen Mindestlohn.

(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)

Wo die FDP recht hat, hat sie recht: Sie eiern in dieser Frage herum.

(Beifall bei der SPD)

Deshalb habe ich mich an den Lateinunterricht erinnert, den ich vor mehr als 20 Jahren hatte.

(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Da kann man nur sagen: Si tacuisses, philosophus mansisses!)

Da haben wir gelernt, was der Begriff „Placebo“ bedeutet. Placebo heißt – ich musste noch einmal nachgucken – wörtlich übersetzt „Ich werde gefallen“. Im gemeinen Sprachgebrauch nehmen wir den Begriff „Placebo“ heute für Arzneimittel, die keine Wirkung entfalten. Deshalb kann man das, was Sie auf dem Parteitag in Leipzig beschlossen haben, tatsächlich nur als einen Placebo-Mindestlohn beschreiben. Sie wollen gefallen, aber Sie bewirken nichts mit dem, was Sie da beschließen. Auch hier gilt Willy Brandt: Politik, die nicht dazu beiträgt, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern, soll uns in diesem Land gestohlen bleiben.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Herr Weiß und Herr Schiewerling, ich nehme Ihnen ab, dass Sie Gutes wollen. Ich bezweifle nur, dass Sie eine Mehrheit im eigenen Laden und eine Mehrheit in dieser Koalition haben. Dass die Kanzlerin in dieser Frage schweigt und sich im Bereich der Finanztransaktionssteuer – da ist es ähnlich – nicht gegen einen schwächelnden Koalitionspartner durchsetzen kann, ist schlimm genug.
Wir könnten miteinander zu vernünftigen Lösungen kommen. Wir legen Ihnen heute einen schlanken, einen guten, einen einfachen Gesetzentwurf vor.

(Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU): Der passt nur nicht zu Ihrer Rede!

Sie werden ihn ablehnen. Aber damit sind Sie das Thema nicht los. Wir wollen faire Löhne in Deutschland. Wir werden dafür sorgen, dass der Mindestlohn kommt. Wenn Sie es nicht schaffen, wird dies nach der Bundestagswahl 2013 die erste Amtshandlung einer rot-grünen Bundesregierung sein.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Da gefrieren sogar die Mienen der Grünen!)