Rede von Hubertus Heil zum Jahreswirtschaftsbericht 2012

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort erhält der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Ausblick auf die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland verlangt vor allen Dingen eines: einen realistischen Blick. Deshalb, Herr Bundeswirtschaftsminister, sagen wir als Opposition: Es ist nicht die Zeit für Alarmismus; denn Deutschland hat in den letzten Jahren durchaus Stärken an den Tag gelegt, die wir brauchen können und weiter brauchen. Es ist aber auch nicht die Zeit für Schönfärberei.
Herr Rösler, eines muss ich Ihnen sagen:

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sag es!)

Angesichts dessen, was Sie hier eben geboten haben, mache ich mir ernsthaft Sorgen über die Form von Realitätsverweigerung, die Sie hier an den Tag legen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Ihnen gefallen doch die Zahlen nicht! Das ist doch der Grund!)

Ich glaube, Herr Rösler, dass das vor dem Hintergrund Ihrer Funktion als FDP-Vorsitzender vielleicht nachvollziehbar ist. Wenn man bei 2 Prozent steht, dann muss man ein bisschen die Realität ausblenden; sonst kommt man gar nicht mehr durch den Tag. So schwierig ist das. Das ist aber Ihr Problem.

Für Deutschland wird es ein Problem, wenn ein Bundesminister für Wirtschaft die Realität der wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Land und in Europa ausblendet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Was blenden Sie denn aus?)

Wie oberflächlich Sie sich als Bundeswirtschaftsminister mit den tatsächlichen ökonomischen Fragen dieser Zeit auseinandersetzen, sieht man an der Art und Weise, wie Sie versucht haben, zum Beispiel gegenüber Bündnis 90/Die Grünen Pappkameraden aufzubauen. Ich habe Frau Merkels Gesicht gesehen: Es sah noch trauriger aus als sonst.

(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie hat Sie schon erwartet! Deswegen ist sie traurig geworden!)

Herr Rösler, man kann mit dem, was Sie hier bieten, fast nur noch Mitleid haben.

(Patrick Döring [FDP]: Wir sind froh, dass Sie sich als Pappkamerad zur Verfügung stellen!)

Kommen wir zur Sache, zum Jahreswirtschaftsbericht.

(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

– Ich muss ja irgendwann einmal darüber reden. Wenn der Wirtschaftsminister nicht über Wirtschaftspolitik redet, dann muss es wenigstens die Opposition tun, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Tatsache ist: Deutschland ist besser durch die vergangenen Jahre der Krise gekommen als andere Volkswirtschaften in Europa. Ich finde, wir sollten jetzt aufhören, zu versuchen, uns wechselseitig selbst auf die Schulter zu klopfen. Jeder hat eine unterschiedliche Wahrnehmung, wer einen Beitrag geleistet hat.
Eine wesentliche Ursache ist, dass Deutschland im Gegensatz zu anderen Volkswirtschaften nach wie vor ein breites und starkes industrielles Rückgrat hat. Von der Grundstoffindustrie bis zu den Hightechschmieden haben wir eine Wertschöpfungskette, die andere Länder – ob Großbritannien, Irland, Griechenland oder andere – so nicht haben. Das hat dazu geführt, dass wir in den letzten Jahren als exportstarkes und wettbewerbsfähiges Land mit den besten Produkten, Verfahren und Gütern auf den Märkten der Welt und auch in Europa erfolgreich waren.
Das ist keine Banalität, Herr Rösler. Denn ich kann mich erinnern, dass vor zehn Jahren auch Vertreter Ihrer Partei Industrie noch für etwas, sagen wir mal, Altmodisches erklärt haben, was ins Bergbaumuseum gehöre.

(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: So ist es! – Widerspruch bei der FDP)

Sie haben uns damals geraten, dem irischen Beispiel zu folgen und allein auf Finanzdienstleistungen zu setzen. Wir wissen, wo das geendet hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist die Lehre aus dieser Krise, dass nicht nur der unverantwortliche Umgang mit öffentlichen Geldern, den es auch gab, die Länder ins Defizit gebracht hat, sondern vor allen Dingen auch eine ökonomische Fehlentwicklung, eine Entwicklung, die sich von realwirtschaftlichem Handeln und industrieller Produktion verabschiedet hat. Denn das haben die Defizitländer in Europa alle gemeinsam.
Deshalb muss man in dieser Zeit zum Jahreswirtschaftsbericht leider feststellen, Herr Rösler, dass sich die Stärke der deutschen Wirtschaft dauerhaft auch zur verwundbaren Stelle entwickeln kann. Weil 60 Prozent der Exporte Deutschlands in die Europäische Union, 40 Prozent in die Euro-Zone und derzeit lediglich 6 Prozent nach China gehen, wissen wir: Wir können als Exportnation, wenn es dem Rest Europas schlecht geht, nicht dauerhaft wirtschaftlich erfolgreich sein, weil die Nachfrage nach deutschen Produkten, Verfahren und Dienstleistungen wegbricht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Antwort darauf bleiben Sie schuldig.
Neben Realitätssinn fehlt Ihnen die Tatkraft, das zu tun, was jetzt notwendig ist. Wir brauchen eine Doppelstrategie, um dieser Herausforderung zu begegnen.

(Patrick Döring [FDP]: Genau! Staatsgeld und mehr Staatsschulden!)

Dazu gehört erstens, dass wir in Deutschland mithelfen, nicht nur konjunkturell, sondern auch strukturell die Binnennachfrage und die Kräfte im Inland zu stärken. Dazu gehören Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur, aber an der richtigen Stelle, Herr Rösler; es geht nicht darum, ein Betreuungsgeld als Fernhalteprämie vom Arbeitsmarkt für Frauen einzuführen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Dazu gehört zweitens aber auch eine angemessene Lohnentwicklung. Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt haben Sie etwas verschwiegen. Tatsache ist: Es ist gut, dass mehr Menschen in Beschäftigung sind als früher, auch im sozialversicherungspflichtigen Bereich. Wer möchte das bestreiten, und wer sollte das schlechtreden? Es ist aber schlecht, dass immer mehr Menschen in diesem Land zwar Vollzeit arbeiten, aber nicht mehr von der Arbeit leben können, weil sie mit Armuts- und Hungerlöhnen abgespeist werden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Das ist ein Zerrbild!)

– Das ist kein Zerrbild. Wenn mittlerweile 25 Prozent der Arbeitnehmer, die arbeitslos werden, direkt in die Grundsicherung, in das Arbeitslosengeld II herunterrasseln und aus der Arbeitslosenversicherung herausfallen,

(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Woran liegt das denn?)

dann hat das mit der Lohn- und Gehaltsentwicklung in diesem Land zu tun. Es hat damit zu tun, dass es einen Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit gibt und dass es im Gegensatz zu anderen Ländern in Deutschland leider Gottes keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen – da sind die Tarifvertragsparteien zuvörderst gefragt – angemessene Lohnabschlüsse, um die Kaufkraft zu stärken. Wir brauchen private und öffentliche Investitionen in diesem Land. Und: Wir müssen mithelfen, dass sich Deutschland so entwickelt, dass es wettbewerbsfähig bleibt. Aber dafür brauchen wir Staaten und Märkte, die in der Lage sind, unsere Produkte, Verfahren und Dienstleistungen abzunehmen.
Deshalb, Herr Rösler, finde ich Ihre Betrachtung der Krise in der Euro-Zone und den Defizitländern sehr oberflächlich. Wer weiterhin glaubt, dass die betroffenen Länder alleine mit kurzfristigen Hilfskrediten und gleichzeitig mit massiven Sparauflagen ökonomisch wieder auf die Beine kommen, der hat nicht begriffen, dass die wirtschaftliche Dynamik in diesen Ländern bestimmte Strukturen, beispielsweise eine bestimmte Infrastruktur, aber auch eine industrielle Struktur, braucht. Aber dazu haben Sie nichts gesagt. Wer einem Staat wie Griechenland mit einer Verschuldung von mindestens 180 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, nur kurzfristig Hilfskredite hinterherwirft und gleichzeitig die dortige Wirtschaft mit kurzfristigen Sparprogrammen und -auflagen abwürgt, der tut nichts dafür, dass dieses Land auf lange Sicht ökonomisch wieder auf eigenen Beinen steht.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Was ist denn Ihr Konzept? Mehr Staatsverschuldung?)

– Herr Döring, ich habe vor kurzem in der Zeitung gelesen, dass Sie als Patrick Lindner bezeichnet wurden. Ich glaube aber, dass Sie Döring heißen.

(Patrick Döring [FDP]: Mehr Staatsverschuldung?)

– Herr Döring, stellen Sie eine Zwischenfrage, oder halten Sie die Klappe!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind aber ein arroganter Vogel!)

Ich sage Ihnen etwas zur Sache. Wir wollen das nicht durch eine höhere Staatsverschuldung finanzieren. Wir brauchen nicht nur einen Fiskalpakt mit Auflagen – der ist in Europa sicherlich notwendig –, sondern auch ein europäisches Wachstumsprogramm. Ich sage Ihnen auch, wie wir es finanzieren wollen:

(Volker Kauder [CDU/CSU]: Halten Sie mal die Klappe!)

durch das Aufkommen einer Finanztransaktionsteuer in der Euro-Zone, deren Einführung Sie blockieren wollen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Rösler, das bringt mich wirklich dazu, mir Sorgen zu machen. Man könnte sich mit Blick auf den Zustand dieser 2-Prozent-Partei FDP getrost zurücklehnen und Witze über die FDP machen. Das reicht aber nicht aus, weil Sie selbst mittlerweile durch Ihr Handeln in der Bundesregierung zu einem Standortrisiko geworden sind.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wenn die Bundeskanzlerin auf europäischer Ebene in Sachen Finanztransaktionsteuer entschlossen auftreten und im Kreis ihrer Kollegen Überzeugungsarbeit leisten will, dann können diejenigen, die die Einführung einer solchen Steuer skeptisch sehen oder dagegen sind, immer wieder mit Blick auf die FDP die Frage stellen: Wie will sich eine Kanzlerin in Europa durchsetzen, die sich in Deutschland noch nicht einmal gegenüber ihrem schwächelnden Koalitionspartner in Sachen Finanztransaktionsteuer durchsetzen kann?

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Wo leben Sie denn, Herr Heil?)

Jetzt will ich etwas zu Ihrer Argumentation sagen, Herr Rösler. Sie müssen sich entscheiden. Sie haben gestern in der Bundespressekonferenz zum Thema Finanztransaktionsteuer zwei Antworten gegeben. Zuerst haben Sie gesagt, warum Sie eine solche Steuer grundsätzlich schlecht finden. Dann haben Sie gesagt: Wenn man sie einführt, dann nur in der Europäischen Union.

(Patrick Döring [FDP]: Wie es die Kommission vorgeschlagen hat!)

Ich sage Ihnen dazu Folgendes: Wenn man eine solche Steuer einführt, dann wäre es ganz toll, wenn man es weltweit machen würde. Das wäre das Beste. Ich wünsche mir, dass das zumindest in der gesamten Europäischen Union möglich wäre. Aber Sie wissen ganz genau, dass das mit einer britischen Regierung, die so sehr von der City of London abhängig ist, nie möglich ist. Deshalb sind Sie in dieser Frage nicht ganz ehrlich. Sie argumentieren in Sachen Finanztransaktionsteuer nach dem Motto: Dafür, weil Ablehnung durch Briten gesichert. – Das ist keine ehrliche Position. Dann sagen Sie doch, dass Sie diese Steuer nicht wollen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen, warum wir diese Steuer brauchen, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen ist sie eine effektive Bremse gegen kurzfristige, volkswirtschaftlich schädliche Spekulationen beispielsweise im Bereich des Hochfrequenzhandels. Zum anderen brauchen wir sie schlicht und ergreifend, weil wir das Aufkommen dieser Steuer in Europa brauchen, weil wir die Staaten nicht in neue Schulden stürzen dürfen und weil wir den Steuerzahlern nicht die Kosten dessen aufhucken dürfen, was jetzt notwendig ist, nämlich ein wirtschaftliches Aufbauprogramm. Das wird sicherlich lange dauern. Aber ich erinnere daran, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ohne ein solches wirtschaftliches Aufbauprogramm – es hieß damals Marshallplan – nicht auf die Beine gekommen wären. Was Sie betreiben, ist Voodoo-Ökonomie. Zu glauben, dass man mit Sparauflagen und Hilfskrediten die betroffenen Länder ökonomisch wieder flottmachen könne, hat mit ökonomischem Sachverstand nichts zu tun.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Ihre Rede auch nicht!)

Zum Thema Energiepolitik. Herr Rösler, war das nicht die Rede eines Bundeswirtschaftministers, der auch für Energiepolitik zuständig ist?

(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Jawohl!)

Das war die Rede eines hilflosen Hilfsreferenten: Man müsste mal, man sollte mal, man könnte mal. Die deutsche Wirtschaft schreibt Ihnen ins Stammbuch, dass die Art und Weise, wie Sie sich bei der Umsetzung der Energiewende mit Herrn Röttgen verhakeln, dass das Fehlen eines Masterplans – er ist notwendig, um die Netze auszubauen, die Erneuerbaren tatsächlich zu integrieren, Planungs- und Investitionssicherheit zu schaffen und Energieeffizienz voranzubringen –, dass dieser Zickzackkurs und diese Unsicherheit mittlerweile zum Problem werden können für die Verbraucher, was die Preisentwicklung betrifft, und für die energieintensiven Unternehmen in diesem Land. Sie sind durch diese Form von Energiepolitik ein Standortrisiko. Das müssen Sie sich zurechnen lassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Rösler, zum Thema Fachkräftesicherung und Personalentwicklung. Abgesehen davon, dass Sie das zu einem wichtigen Thema erklärt haben, ist der einzige Beitrag, der im Bereich Personalentwicklung im Moment geleistet wird – ob das Fachkräftesicherung ist, weiß ich nicht –, das, was Ihr Kollege Niebel im Entwicklungsministerium an Personalpolitik macht. Er hat wahrscheinlich Entwicklungspolitik mit Personalentwicklung verwechselt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der FDP)

Aber es gibt in der Sache keine Fachkräfteallianz und keine Strategie in Deutschland, die die Spaltung des Arbeitsmarktes überwindet.
Wir erleben, dass demografiegetrieben die Arbeitsmarktsituation in diesem Jahr stabil bleibt. 150 000 Menschen weniger als im letzten Jahr stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Das ist nicht nur eine politische Leistung; das ist schlicht und ergreifend Demografie.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Deshalb ist die Fachkräftesicherung Thema Nummer eins. Kümmern Sie sich einmal darum, und bauen Sie hier keine Pappkameraden auf! Sie sind eine Nummer zu klein für das Amt, Herr Rösler; das kann ich Ihnen nicht ersparen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Ich bin so froh, dass Sie das nicht entscheiden müssen!)