Rede von Hubertus Heil zum Bundeshaushalt Arbeit und Soziales


Vizepräsident Eduard Oswald:

Wir setzen die Debatte regulär fort. – Für die Sozialdemokraten hat das Wort unser Kollege Hubertus Heil. Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau von der Leyen, vielleicht täte es diesem Haus einmal ganz gut, wenn wir in der Debatte über den Arbeitsmarkt in Deutschland weder den Fehler machten, alles durch die rosarote Brille zu betrachten – den begehen Sie quasi aus regierungsamtlicher Notwendigkeit –, noch den Fehler, alles undifferenziert zu sehen und so zu tun, als hätte sich an der einen oder anderen Stelle nicht etwas zum Positiven verändert. Ich glaube, wir brauchen einen realistischen Blick auf die Entwicklung des Arbeitsmarktes in Deutschland.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist wahr!)

Ein realistischer Blick legt Folgendes nahe: Ja, es ist richtig, Deutschland ist, was die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angeht, besser durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekommen als andere Volkswirtschaften in Europa, aber nicht unbedingt wegen Frau von der Leyen. Wir sind zum Beispiel deshalb besser durch die Krise gekommen, weil wir in der Großen Koalition mit den Kurzarbeitsregelungen die richtigen Maßnahmen ergriffen haben, weil Deutschland im Gegensatz zu anderen Volkswirtschaften ein industrielles Rückgrat hat.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das Sie kaputtmachen wollen!)

Das ist eine gute Nachricht. Es ist auch richtig: Wir haben die Chance, in den nächsten Jahren einen Durchbruch am Arbeitsmarkt zu erzielen und langfristig Arbeitslosigkeit zu überwinden, auch durch die demografische Entwicklung.
Aber das kommt nicht von allein, Frau von der Leyen. Realität in Deutschland ist auch, dass die Entwicklung im Moment auf einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt hinausläuft. Auf der einen Seite werden aufgrund veränderter Qualifikationsanforderungen in den Betrieben durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt und aufgrund des veränderten Altersaufbaus tatsächlich immer mehr Unternehmen händeringend nach Fachkräften rufen, und auf der anderen Seite haben wir einen Sockel verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit. Diesen Sockel gilt es eigentlich aufzubrechen. Die vom Arbeitsmarkt dauerhaft abgehängten Menschen hängen Sie mit dem, was Sie hier mit diesem Haushalt durchziehen, noch weiter ab; das muss man feststellen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Die Kollegin Pothmer und auch die Kollegin Hagedorn haben Ihnen das an diesem Punkt vorgerechnet.
Frau von der Leyen, Sie sind ja eine Meisterin des schönen Wortes;

(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)

das bestreitet in diesem Hause niemand. Wenn ich mir anschaue, inwieweit Worte und Taten, Reden und Handeln bei Ihnen zusammenpassen, stelle ich fest, dass das alles meilenweit auseinanderklafft. Ich kann Ihnen an drei Beispielen deutlich machen, dass wir so nicht vorankommen:
Das erste Beispiel. Sie reden ständig von einer Vermittlungsoffensive – das haben Sie auch eben wieder getan –, zum Beispiel für die Gruppe der alleinerziehenden Frauen, die unter den Langzeitarbeitslosen nachweislich eine ganz große Gruppe ist; das sind Frauen, die es besonders schwer haben.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)

Und was machen Sie? Sie streichen die Maßnahmen zusammen, die notwendig sind, um diesen Frauen zu helfen. Wenn man einfach sagen könnte: „Wir haben jetzt die Situation, um alle Betroffenen ganz schnell auf den ersten Arbeitsmarkt zu bringen“,

(Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin: Ja, natürlich!)

wäre das wünschenswert. Ich sage Ihnen: Menschen, die langzeitarbeitslos sind, die drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun Jahre arbeitslos sind, brauchen begleitende Hilfen und eine aktive Arbeitsmarktpolitik, damit sie auf den ersten Arbeitsmarkt kommen können. So wird ein Schuh daraus!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Das andere hat mit der Realität dieser Menschen nichts zu tun. Diese Frauen brauchen begleitende Hilfen, Frau von der Leyen, und Sie lassen diese Frauen im Stich. Reden und Handeln passen bei Ihnen nicht zusammen.

(Zuruf der Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen)

– Sehr gern.
Ein zweites Beispiel gefällig? Frau von der Leyen, Sie reden mit Vorliebe vom Thema Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Ich höre vieles, was Sie sagen, richtig gern, weil ich feststelle: Da passt sich eine kluge Frau nach vielen Jahren konservativer Blockade Schritt für Schritt den gesellschaftlichen Realitäten hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie an. Aber dann lassen Sie zu, dass diese Regierung, der Sie angehören, ein sogenanntes Betreuungsgeld auf den Weg bringt,

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

eine Fernhalteprämie: Frauen werden vom Arbeitsmarkt und Kinder von Bildungschancen ferngehalten.
Auch wenn das nicht in Ihre unmittelbare Ressortzuständigkeit fällt, sondern Ihre geliebte Kollegin Schröder betrifft, muss ich Ihnen sagen: Als Sozialministerin haben Sie die Verantwortung, die Chancen der Kinder in diesem Land und die Chancen der Frauen am Arbeitsmarkt zu verbessern und den Unsinn mit der Fernhalteprämie aufzuhalten. Auch da sind Sie verantwortlich; aber Sie sagen nichts dazu.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Drittens. Frau Ministerin von der Leyen, es geht auch um die Ordnung am Arbeitsmarkt. Es ist richtig, dass wir am Arbeitsmarkt beides brauchen: Flexibilität und Sicherheit. Flexibilität ist in vielen Bereichen vorhanden, und sie ist auf einem veränderten Arbeitsmarkt auch notwendig. Aber Sicherheit ist in vielen Bereichen nicht mehr vorhanden. Die janusköpfige Entwicklung der letzten Jahre ist – wir müssen das offen einräumen –: Es gibt eine positive Entwicklung; die Arbeitslosenzahlen sind zurückgegangen. Aber wir können und dürfen die Augen nicht davor verschließen – das sage ich bewusst auch selbstkritisch –, dass sich in vielen Jahren die Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen so verfestigt hat, dass Menschen diese Arbeitsverhältnisse nicht als Brücke aus der Arbeitslosigkeit über eine unstetige Beschäftigung in eine ordentliche Beschäftigung erleben, sondern als Dauerzustand.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)

Wir erleben auch, dass die Ausweitung bei den prekären Arbeitsverhältnissen dazu führt, dass das Ganze zum Drücken von Löhnen missbraucht wird.
Frau von der Leyen, wenn Sie von den guten Chancen der Jugendlichen reden, haben Sie recht: Im Vergleich zu Spanien und Griechenland haben wir eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit; das ist ein Erfolg. Aber viele Jugendliche erleben in diesem Land auch, dass sie trotz guter Ausbildung viele Jahre lang gezwungen sind, sich mit Praktika, befristeten Arbeitsverträgen, Zeit- und Leiharbeit durchzuhangeln.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: In Frankreich haben die gar keinen Arbeitsplatz!)

In einer Phase, wo viele junge Leute beispielsweise das Bedürfnis haben, eine Familie zu gründen, ihr Leben in Ordnung zu bringen, erleben sie, dass sich ihre Leistung, ihr Einsatz nicht lohnen. Ich sage Ihnen: Da reichen schöne Worte nicht aus.
Das sage ich auch mit Blick auf das Thema Mindestlohn. Frau von der Leyen, es war ein erstaunlicher Parteitag, den Sie hatten. Ich weiß, wie man Parteitage organisiert; Sie wissen das. Aus alter Verbundenheit sage ich Ihnen: Super organisiert! Am Ende des Tages ist aber materiell gar nichts passiert, gar nichts herausgekommen.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)

Wenn man sich Ihren Beschluss anschaut und sich dann vor Augen führt, was Sie eben erzählt haben, dann muss man sagen: Entweder war das nicht von Sachkenntnis geprägt, oder Sie versuchen, den Leuten etwas vorzumachen. Sie sagen: Wir wollen tarifvertragliche Mindestlöhne über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Ich sage: Das ist bereits möglich.

Wir könnten diese Möglichkeit ausbauen, indem wir im Arbeitnehmer-Entsendegesetz mit einem Satz klarmachen, dass dort jede Branche aufgenommen werden kann. Dann müssten wir Ihnen – gegen den Widerstand der FDP – nicht jede Branche mühsam abringen. Angesichts der Vetoakteure könnten wir auch dafür sorgen, dass die Ausweitung leichter in Kraft gesetzt werden kann. Wir könnten das Instrument der tarifvertraglichen Mindestlöhne über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz also ausbauen; aber im Prinzip gibt es das schon.
Dann sagen Sie: Wo es keine Tarifverträge gibt, setzen wir eine Kommission ein; dann kann die sich etwas Schönes ausdenken. – Im Grunde ist das die Beschreibung des Mindestarbeitsbedingungengesetzes, und auch das gibt es schon.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Genau!)

Aber es funktioniert halt nicht.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es gibt da eine andere Antwort!)

Deshalb sage ich Ihnen eines: Sie müssen Schritt für Schritt deutlich nachweisen, dass Ihren schönen Interviews auch Taten folgen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Dieses Hohe Haus, Frau von der Leyen, wartet nicht auf Ihre Interviews, sondern darauf, dass Sie als zuständige Ministerin für Arbeit und Soziales dem Deutschen Bundestag und der deutschen Öffentlichkeit einen Gesetzentwurf vorlegen. Dann werden wir wissen, ob Sie es wirklich ernst meinen. Ich prophezeie Ihnen: Dadurch, dass Ihre Freunde wie Herr Fuchs, Herr Lauk und wie sie alle heißen Ihren Beschluss so interpretieren, dass sich gar nichts tut, dadurch, dass Herr Laumann sagt: „Wir machen den Sack zu, egal, was drin ist“, und dadurch, dass eine FDP, die aufgrund ideologischer Fixierung in Sachen Mindestlohn keinen Deut nachgeben wird, die sich in einem Existenzkampf befindet und aus Gesichtswahrungsgründen keinen Schritt mitgeht, wird diese Regierung dazu nicht in der Lage sein.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Genau!)

Ich finde das bedauerlich. Denn ich sage Ihnen auch: Ich würde es gerne sehen, dass wir uns im nächsten Wahlkampf über andere Themen streiten.

(Zurufe des Abg. Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/ CSU])

Ich fände es schön, wenn wir im Interesse der arbeitenden Menschen in diesem Land einen Mindestlohn einführen. Vorrang sollen die tarifvertraglichen Mindestlöhne haben, aber es soll auch eine gesetzliche Lohnuntergrenze in Deutschland geben, damit Menschen von ihrer Arbeit leben können.

(Beifall bei der SPD)

Mit Blick auf den Haushalt will ich Ihnen sagen, Frau von der Leyen: Wenn Sie Kraft und Mut hätten, dann hätten Sie hier einen Haushalt vorgelegt, der es sich nicht so leicht macht, bei den Schwächsten der Schwachen zu kürzen. Sie hätten sich für einen Mindestlohn starkmachen müssen, der im Übrigen auf den Gesamthaushalt, auf die Sozialversicherungskassen und auf die Ausgaben, die wir im Moment für aufstockende, ergänzende Arbeitslosengeld-II-Leistungen haben, sowie durch die Steuereinnahmen auch auf der Einnahmeseite positive Effekte gehabt hätte.
Eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt, das ist das Gebot der Stunde. Gemessen daran kann ich nur eines feststellen: Sie sind ohne Zweifel stark in schönen Worten, aber Sie sind schwach in konkreten Taten. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland, die arbeitslosen Menschen und auch die Wirtschaft haben in diesem Ressort etwas Besseres verdient als eine reine Ankündigungsministerin.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)