Rede von Hubertus Heil zur Arbeitsmarktpolitik


Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:

Das Wort hat nun Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin, zu dieser Frage hätte uns die Haltung der Bundesregierung interessiert. In der gestrigen Debatte über das Betreuungsgeld war Ihre Kollegin Schröder so mutig, zu versuchen, uns ihren Standpunkt zu erklären.

(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist ihr auch gelungen!)

Was Sie meinen, das lesen wir in der Bild am Sonntag. Als ich Ihr Interview gelesen habe, erging es mir wie meiner Kollegin Nahles. Ich dachte nämlich: Hossa, die Waldfee! Da bewegt sich etwas.
Herr Kober, Sie sind von Hause aus evangelischer Theologe. Ich bin evangelischer Christ. Daher ist folgender Satz nahe liegend: Im Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als über 100 Gerechte. – Zu Deutsch: Wenn Sie sich in Sachen Mindestlohn tatsächlich unseren Vorschlägen anschließen, Frau von der Leyen, dann würden wir das nicht kritisieren.

(Pascal Kober [FDP]: Man darf sich aber nicht selbst zum Gerechten machen!)

An dieser Stelle sage ich aber ganz klar: Die Diskussion bei Ihnen hat sich in den letzten Tagen zerbröselt. Sie wissen nicht nur nicht, was Sie wollen, Sie wissen auch nicht, was Sie tun.

(Beifall bei der SPD)

Es gibt da die buntesten Vorschläge. Frau von der Leyen, ich befürchte, dass am Ende Herr Laumann recht hat, der heute in einem Interview gesagt hat, er rechne angesichts der Verhältnisse in seiner Partei und bei seinem Koalitionspartner nicht damit, dass sich in dieser Legislaturperiode in dieser Sache überhaupt etwas tut. Das ist die schlechte Nachricht für die Menschen in Deutschland.

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Aber Herr Heil!)

Ich sage Ihnen ganz offen: Das künstliche Auseinanderdividieren von über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz geschaffenen tarifvertraglichen Mindestlöhnen und einer allgemeinen Lohnuntergrenze bzw. eines gesetzlichen Mindestlohnes, der diesen Namen auch verdient, wird der Sache nicht gerecht. Sie könnten ohne Weiteres etwas dafür tun, dass tarifvertragliche Mindestlöhne einfacher vereinbart werden können – das haben wir Ihnen im Frühjahr vorgeschlagen –, indem Sie allen Branchen diese Möglichkeit im Arbeitnehmer-Entsendegesetz eröffnen. Sie tun es nicht, weil sich die CDU nicht gegen die FDP durchsetzen konnte. Das ist an dieser Stelle die Wahrheit.
Für jede neu hinzukommende Branche müssen wir das Arbeitnehmer-Entsendegesetz sozusagen anfassen. Bisher gilt es nämlich nur für zehn Branchen. Es ist daher ein zähes Ringen um tarifvertragliche Mindestlöhne; denn erstens muss eine neue Regelung, was den Kreis der betroffenen Branchen angeht, in das Gesetz aufgenommen werden, und zweitens muss die Mehrheit im Tarifausschuss entscheiden. Das zu ändern, wäre der erste Schritt, den wir machen könnten.
Wir Sozialdemokraten wollen einen Vorrang für tarifvertragliche Mindestlöhne. Darum haben wir Jahr für Jahr gekämpft – dies mussten wir Ihnen auch in den Verhandlungen im Frühjahr Branche um Branche abringen –, und deshalb sind wir so weit gekommen.

(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Der Erste war Herr Kolb, der das als Staatssekretär im Bau eingeführt hat!)

Wir wollen, wie gesagt, einen Vorrang der Tarifautonomie. Wir wollen aber auch die Möglichkeit für tarifvertragliche Mindestlöhne weiter ausbauen. Daneben brauchen wir eine Lohnuntergrenze, also einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, als untere Auffanglinie.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich sage Ihnen auch, warum. Die Kollegin Pothmer hat nämlich vollkommen recht: In einigen Bereichen gibt es Tarifverträge, die diesen Namen nicht mehr verdienen. Das liegt an der Tarifflucht auf Arbeitgeberseite und auch an der Tatsache, dass es für Gewerkschaften in vielen Branchen außerordentlich schwierig ist, sich zu organisieren. Das ist die Wahrheit.
Der Mindestlohn ist notwendig, weil beispielsweise ein Stundenlohn von – wenn ich mich richtig erinnere – 3,12 Euro im Friseurgewerbe in Sachsen leider Gottes Bestandteil eines Tarifvertrages ist.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wollen Sie in Tarifverträge eingreifen?)

Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Die Tarifautonomie hat sich jahrzehntelang bewährt. Wer die Augen aber davor verschließt, dass die aktuelle Entwicklung, die sich in der Tarifflucht und in der aktuellen Schwäche auf Arbeitgeber- und Gewerkschaftsseite zeigt, dazu geführt hat, dass Lohnfindungsprozesse bei 3,12 Euro oder bei 3,06 Euro enden, der muss handeln. Deshalb sage ich Ihnen: Es ist nicht akzeptabel, dass Sie sich hier hinstellen, rumeiern und die verschiedensten Vorschläge machen. Für die Öffentlichkeit und für die betroffenen Menschen ist es vollkommen uninteressant, welcher Flügel der CDU sich in dieser Frage durchsetzt. Es zählen Taten. Es gilt der Satz von Erich Kästner: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

(Beifall bei der SPD)

Frau Ministerin, Sie haben in der Bild am Sonntag angekündigt, dass Sie noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzesvorschlag machen wollen. Nach Ihrem Leipziger Parteitag werde ich Sie täglich fragen, wann Sie liefern.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das hat sie wirklich nicht verdient!)

Ich kann Ihnen aber nur die alte Kaufmannsweisheit entgegenhalten: Man kann nur liefern, wenn man etwas auf Lager hat. Diese Koalition hat nichts auf Lager. Das führt zu dem Ergebnis, dass Sie manchmal Expertisen, die Ihnen nicht in den Kram passen, unterdrücken.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist doch Unfug, Herr Heil!)

Das angesprochene Gutachten von renommierten Instituten wie IAQ, IAW, IAB und ZEW im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, mit Steuergeldern bezahlt, liegt Ihnen doch seit dem 31. August vor. Frau Ministerin, es ist ganz interessant, dass man mit einem wissenschaftlichen Gutachten erst einmal in die Ressortabstimmung mit FDP-Ministern eintreten muss, um zu schauen, ob einem die Ergebnisse passen. Das ist ein dickes Ding, das Sie sich da leisten.

(Beifall bei der SPD)

Dieses Gutachten beleuchtet die Arbeitsplatzeffekte der tarifvertraglichen Mindestlöhne in den Branchen. Daraus ergibt sich, dass das, was die FDP seit Jahren behauptet, dass nämlich Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten würden, schlicht und ergreifend Unsinn ist.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Die meisten Arbeitsplätze hat Rot-Grün vernichtet in Ihrer Regierungszeit! – Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])

– Wenn Sie schon nicht auf uns hören, Herr Kolb, dann will ich Ihnen einen Rat von einem Menschen geben, dem sie vielleicht mehr zutrauen als uns; das kann ja sein.

(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Jedem!)

Ich zitiere:
Ein Mensch muss von seiner Arbeit leben können und sein Lohn muss wenigstens existenzsichernd sein! Ja, er sollte in der Regel etwas höher sein. Anderenfalls wäre es nicht möglich, eine Familie zu ernähren.
Wissen Sie, wer das schrieb, Herr Kolb?

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Irgendein Papst?)

– Nein, das ist kein Papst gewesen, sondern das war ein gewisser Adam Smith im Jahre 1776. 235 Jahre nach dem Urvater der liberalen Vorstellung von Marktwirtschaft haben Sie es immer noch nicht begriffen.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ist schon länger her!)

Ich sage Ihnen: Das werden die Menschen Ihnen nicht mehr durchgehen lassen. Frau Merkel kann nicht länger rumeiern. Wir werden Sie stellen; wir werden Sie auffordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen, –
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
– und wir werden unseren Gesetzentwurf einbringen, weil es uns darum geht, dass Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit auch leben können.
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)