Rede von Hubertus Heil zur Festsetzung des Mindeslohnes


Hubertus Heil (Peine) (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Bundestagsfraktion legt dem Deutschen Bundestag heute den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns vor. Wir haben dafür gute Gründe. Über 20 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland arbeiten derzeit im Niedriglohnsektor. Übrigens: 70 Prozent derjenigen, die dort arbeiten, sind Frauen. Wir haben die Situation, dass laut Studien mittlerweile über 5 Millionen Menschen in Deutschland weniger als 8 Euro die Stunde verdienen, Herr Hinsken. Weniger als 8 Euro die Stunde! Wenn man sich dann noch vor Augen hält, dass 1,2 Millionen Menschen in diesem Land weniger als 5 Euro die Stunde verdienen,

(Andrea Wicklein [SPD]: Es ist nicht zu fassen!)

dann muss man feststellen: Handeln ist geboten. Wer Leistungsgerechtigkeit will, wer will, dass es einen guten und anständigen Lohn für gute Arbeit gibt, der braucht den gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. Es ist Zeit, zu handeln.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])

Es geht um Anstand, um anständige Löhne, um Leistungsgerechtigkeit. Es geht aber auch, meine Damen und Herren von der Koalition, um fairen Wettbewerb zwischen Unternehmen. Es findet ein Dumpingwettbewerb zuungunsten bzw. zulasten anständiger Unternehmerinnen und Unternehmer statt, die anständige Löhne zahlen wollen, die aber den Druck, der entsteht, wenn sie beim Lohnniveau mit Schmutzkonkurrenz konfrontiert werden, nicht mehr aushalten. Diese Unternehmen brauchen fairen Wettbewerb. Auch deshalb brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Außerdem sind es die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, die uns heute am Fernseher zuschauen oder oben auf den Zuschauerbänken sitzen – –

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So viele sind es bei Ihnen nicht! – Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP] verlässt den Plenarsaal)

– Herr Lindner geht und brüllt; so kennen wir ihn. Ich sage Ihnen: Das zeigt auch, welche Wertschätzung er gegenüber den arbeitenden Menschen in Deutschland in dieser Stunde hat.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es sind die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in diesem Land, die Jahr für Jahr insgesamt 11 Milliarden Euro aufbringen und dafür sorgen müssen, dass Armutslöhne aufgestockt werden können. 11 Milliarden Euro geben wir im Bundeshaushalt für ergänzendes Arbeitslo-sengeld II aus. Ich gebe zu: Die Hälfte der Betroffenen sind nicht in Vollzeitarbeit, sondern sind Minijobber.

(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Eben!)

Aber auch für diesen Bereich gilt: Es werden Stundenlöhne gezahlt, von denen die Menschen nicht leben können.
Die andere Hälfte ist zum großen Teil in Teilzeit, werden Sie sagen. Aber es bleibt ein erklecklicher Teil, über 360 000 Menschen in Deutschland, der von morgens bis abends schuftet, nicht genug Geld hat, um leben zu können, und sich ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt holen muss. Das ist nicht nur gegenüber den Familien und den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die hart arbeiten, unwürdig.

(Zuruf von der FDP: Wer hat denn so etwas eingeführt?)

Es ist ökonomischer Unsinn, dass wir in diesem Land mit immer mehr Geld der Steuerzahler staatliche Armutslohnbewirtschaftung zu leisten haben.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: Skandal!)

Die Tarifautonomie in Deutschland hat sich bewährt. Wir wollen den Vorrang für tarifvertragliche, branchenübliche Mindestlöhne, wie wir sie in vielen Branchen schon durchgesetzt haben. Wir wollen im Übrigen dafür sorgen, dass solche Löhne einfacher durchzusetzen sind, indem wir über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allen Wirtschaftszweigen die Möglichkeit eröffnen, zu Mindestlöhnen zu kommen. Wir wollen einen Vorrang für tarifvertragliche Lösungen.
Wir brauchen allerdings auch den gesetzlichen Mindestlohn. Wir erleben in vielen Bereichen, dass Tarifautonomie nicht mehr vernünftig funktioniert, weil Arbeitgeberverbände und auch Gewerkschaften nicht gut genug organisiert sind. Dies führt zu dem Ergebnis, dass es zu keiner anständigen Lohnfindung kommt.
Lassen Sie mich an dieser Stelle, wie es heute Morgen schon geschehen ist, den Bezug schaffen zu den Verhandlungen, die gestern an der Unwilligkeit und der Unfähigkeit der schwarz-gelben Koalition vorerst gescheitert sind.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ CSU und der FDP)

– Nein. Ich will Ihnen das sagen. Herr Hinsken, ich war ja dabei. Ich habe es doch erlebt. – Am Montag und Dienstag hieß es, Frau Merkel werde das jetzt zur Chefsache machen. Die Chefsache, die sie geleistet hat, war, ihre Koalition auf ein Njet zu allen Vorschlägen, die wir gemacht haben, zu verständigen. Wenn das Chefsache ist, Herr Altmaier, dann ist mir angst und bange um die Zukunft des Landes in der Zeit, in der Frau Merkel noch Bundeskanzlerin ist. Chefsache bedeutet bei Ihnen Scheitern.

(Beifall bei der SPD – Pascal Kober [FDP]: Ihre Verhandlungskommission ist sich uneinig!)

Wir haben in mehreren Bereichen Vorschläge gemacht. Wir müssen uns bemühen – darüber wird noch an anderer Stelle zu reden sein –, den Regelsatz im Bereich Hartz IV verfassungskonform zu gestalten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Der ist verfassungskonform!)

Wir haben nach wie vor erhebliche Zweifel an dem, was Frau von der Leyen vorgelegt hat.
Beim Bildungspaket fehlt die Berücksichtigung der Schulsozialarbeit. Sie ist notwendig, um tatsächlich dafür zu sorgen, dass Kinder aus sozial schwachen Familien Hilfe bekommen.
Ich empfinde es geradezu als ein Stück aus dem Tollhaus, dass diese Koalition überhaupt nicht dazu bereit ist, etwas gegen den Missbrauch von Zeit- und Leiharbeit zu tun.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich sage es Ihnen noch einmal: Das ist weder christlich noch liberal.
Zeit- und Leiharbeit können und sollen ein vernünftiges Instrument für Unternehmen sein, um Auftragsspitzen abzudecken. Aber Zeit- und Leiharbeit dürfen nicht weiter ein Einfallstor für Lohndumping in diesem Land sein.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Deshalb brauchen wir zweierlei. Wir brauchen im Vorfeld des 1. Mai 2011 – ab diesem Datum gilt die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa – einen Mindestlohn auch in der Zeit- und Leiharbeitsbranche. Ich meine allerdings einen richtigen Mindestlohn und nicht das, was Sie vorgelegt haben, nämlich einen Placebomindestlohn. Sie wollen einen Mindestlohn nur für die verleihfreie Zeit. Wir sagen: Wir brauchen eine absolute Lohnuntergrenze für die Zeit- und Leiharbeit. Sie sind aber nicht bereit, dem zuzustimmen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Wir brauchen also einen Mindestlohn über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz und nicht Ihr Placebokonstrukt eines Referenzlohns, den man dann auch noch unterschreiten kann. Wenn Sie die Leute „verklappsen“ wollen, dann machen Sie ruhig weiter so. Der Mindestlohn in der Zeit- und Leiharbeitsbranche ist nur das eine.
Das andere – das Wichtigere – ist, dass wir den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ durchsetzen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Zu Frau Klöckner – jetzt ist auch sie weg – kann ich nur sagen: Gott schütze Rheinland-Pfalz vor dieser Frau. Bernhard Vogel hat damals recht gehabt, als er sagte: Gott schütze Rheinland-Pfalz. Das ist geschehen. Die Rheinland-Pfälzer haben seit 1991 klugerweise nicht mehr die CDU an die Macht gewählt. Ich sage Ihnen: Frau Klöckner hat vorhin auf meine Frage, wie das mit dem gleichen Lohn für gleiche Arbeit sei, geantwortet, dies sei schon im Gesetz verankert. Da hat sie recht. Aber da steht sie in der Tradition von Helmut Kohl, nach dem Motto: Die Realität ist anders als die Wirklichkeit. Dieser Grundsatz ist zwar gesetzlich verankert, aber es gibt ein Schlupfloch, das zu einem Scheunentor geworden ist.

(Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat das Schlupfloch denn geschaffen?)

Wir wollen gleichen Lohn für gleiche Arbeit, meinethalben nach einer angemessenen Einarbeitungszeit von vier Wochen. Im Rahmen des Kompromisses haben wir sogar drei Monate angeboten, was verdammt schwer zu realisieren gewesen wäre. Wir brauchen die Verwirklichung des Grundsatzes „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“; Leihbelegschaften und Stammbelegschaften müssen bei gleicher Arbeit gleich verdienen. Es ist unfair, wenn zwei an einem Band stehen und der eine einen hohen und der andere einen niedrigen Stundensatz bekommt. Das ist auch deswegen unfair, weil ein Stammbelegschaftsmitarbeiter mit einem hohen Stundensatz somit Angst hat, dass er demnächst durch den ersetzt wird, der neben ihm als Dumpinglöhner missbraucht wird. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ ist eine Frage von Anstand, Würde und ökonomischer Vernunft.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, ich bitte Sie, zum Ende zu kommen.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen auch im Streit um Hartz IV eine Lösung.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Wir sind verhandlungsbereit; aber wir stimmen nur zu, wenn es zur Verbesserung der Lebenssituation von hart arbeitenden Menschen kommt. Deshalb: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und Mindestlöhne in Deutschland!
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])