Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Das Wort hat nun der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist eigentlich schade, dass man darauf Redezeit verwenden muss, aber diese oberflächliche Form von ökonomischer Debatte meiner beiden Vorredner miteinander verdient schon eine gewisse Kommentierung.
Herr Wadephuhl, Sie tun gerade so, als hätten wir im Binnenmarkt mit Dienstleistungen und Löhnen kein Problem. Auf der anderen Seite wird so getan, als sei die Lohnentwicklung bei den Chemiefacharbeitern, bei denen es, Kollege Ernst, wirklich nicht um Mindestlöhne geht, problematisch.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Natürlich nicht!)
Das ist nicht wahr. Ich sage Ihnen deshalb aus ökonomischer Sicht: Es geht nicht darum – jedenfalls nicht für uns Sozialdemokraten –, Export und Wettbewerbsfähigkeit der Binnennachfrage gegenüberzustellen. Denn jeder weiß: Wir brauchen beides, und wir sind in der Tat aufgrund der besten Produkte, Verfahren und Dienstleistungen wettbewerbsfähig, nicht aufgrund der niedrigsten Löhne. Auf der anderen Seite haben wir – das betrifft vor allem Dienstleistungen im Binnenmarkt; da brauchen wir Mindestlöhne – in diesem Problemfeld zu niedrige Löhne.
(Beifall bei der SPD)
Diese Differenzierung muss sein. An dieser Stelle bringt die Holzhammerpolitik von Rechts und ganz Links den Arbeitnehmern, die es betrifft, nichts.
Deshalb will ich zur Sache reden, Kollege Ernst: Es geht um die Arbeitnehmerfreizügigkeit zum 1. Mai.
(Zuruf von der LINKEN)
Wir haben den Antrag ja, wie Sie wissen, Frau Kollegin, die Sie dazwischengerufen haben, etwas früher als Sie gestellt, nämlich im Mai dieses Jahres. Ich finde es in Ordnung, dass wir einer Meinung sind,
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Für 10 Euro Mindestlohn!)
dass wir mit Blick auf den 1. Mai 2011 noch mehr Druck ausüben müssen, damit Lohnuntergrenzen in diesem Land eingeführt werden.
Wir haben vor zwei, drei Jahren auf europäischer Ebene eine heftige und intensive Debatte über die Dienstleistungsrichtlinie geführt. Damals gab es einige in Europa – das waren eher die politischen Freunde der FDP –, die das sogenannte Herkunftslandprinzip durchsetzen wollten. Sie wollten die Freizügigkeit in Europa, also die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit, so ausgestalten, dass Menschen aus anderen Staaten, wenn sie hier in Deutschland Dienstleistungen anbieten bzw. ihre Arbeit ausüben, quasi im Rucksack das Verbraucherrecht und das Sozialrecht der Slowakei, von Polen oder anderen Ländern mitnehmen können. Dieses sogenannte Herkunftslandprinzip haben wir dank massiven Widerstands auch von sozialdemokratischer Seite weitestgehend im Europäischen Parlament verhindern können.
Tatsache ist, es gibt Dienstleistungsfreiheit in Europa. Wer aber hier Dienstleistungen erbringt, muss sich an die deutschen Gesetze halten, egal ob deutscher oder ausländischer Herkunft. Wir haben also auf europäischer Ebene durchaus wirksame Maßnahmen gegen Dumping von Sozialstandards und gegen Dumping von Umwelt- und Verbraucherstandards geschaffen. Aber – das wurde uns bei der europäischen Debatte damals auch ins Stammbuch geschrieben – zur Verhinderung von Lohndumping braucht es nationale Lohnuntergrenzen, sprich Mindestlöhne, auch in Deutschland. Das ist das, was Sie nicht begriffen haben.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Was das Herkunftslandprinzip bedeutet hätte, möchte ich an einem Beispiel deutlich machen: Jemand fährt mit dem Auto von Deutschland nach England – das geht heutzutage; denn da gibt es einen Tunnel – und sagt sich, sobald er in England aus dem Tunnel herauskommt: Guten Tag, ich halte mich jetzt nicht an die Straßenverkehrsordnung von Großbritannien, sondern an meine eigene, die ich aus Berlin mitgebracht habe. – Das ist keine gute Idee, wenn man an die Sonderregelungen in der Straßenverkehrsordnung Großbritanniens denkt. Das heißt für unsere Frage: Wer für fairen Wettbewerb zwischen den Unternehmen und für freien Markt in einem geeinten Europa ist, der muss dafür sorgen, dass überall die gleichen Wettbewerbsbedingungen gelten und kein Dumping zulasten von Verbrauchern, in diesem Fall von Arbeitnehmern, stattfinden kann.
(Beifall bei der SPD)
Nun möchte ich Ihnen etwas zum Thema Produktivität sagen: Sind Sie ernsthaft der Meinung, dass ein Lohnniveau von 3 oder 4 oder 5 Euro die Produktivität in den Bereichen, über die wir reden, abbildet? Das frage ich Sie, weil Sie ja behauptet haben, ein Mindestlohn würde dem Gebot, dass Arbeitslöhne der Produktivität entsprechen müssen, widersprechen. Andersherum wird ein Schuh daraus: Die Tarifautonomie in Deutschland hat sich bewährt.
(Zuruf von der LINKEN)
Die alte Lohnformel „Produktivitätsfortschritt plus Inflationsausgleich“ hat lange gegolten. Tatsache ist aber auch, in vielen Branchen funktioniert die Tarifautonomie nicht mehr so richtig, weder auf Arbeitgeber- noch auf Arbeitnehmerseite. Das ist der Grund, warum wir heute Lohnuntergrenzen brauchen, die wir früher in Deutschland nicht brauchten. Das ist auch der Grund – die CDU bewegt sich da ja mittlerweile mehr als die FDP –, warum wir Mindestlöhne Stück für Stück in Branchen umsetzen. Ich sage hier noch einmal: Wir Sozialdemokraten sind für den Vorrang tarifvertraglicher Lösungen, wo immer es geht. Sie brauchen aber auch eine Antwort für die Branchen, in denen das nicht geht.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das widerspricht aber dem gesetzlichen Mindestlohn!)
– Nein, das widerspricht sich überhaupt nicht.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Doch!)
Da, wo sich Gewerkschaften und Arbeitgeber auf Lohnuntergrenzen verständigen, können wir diese über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz allgemeinverbindlich erklären. Aber, Herr Straubinger, was machen Sie denn in Branchen, in denen die Tarifautonomie nicht mehr funktioniert? – Weil es das immer häufiger gibt, sagen wir, dass wir einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland als verbindliche Lohnuntergrenze benötigen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren von der Koalition, ich will Ihnen ins Stammbuch schreiben: Es macht ordnungspolitisch Sinn, Mindestlöhne einzuführen, weil es nicht die Aufgabe der sozialen Marktwirtschaft ist, mit immer mehr Steuergeld Stück für Stück ein System staatlicher Lohnbewirtschaftung aufzubauen. Es ist nicht der Sinn sozialer Marktwirtschaft, dass die Steuerzahler immer stärker – in diesem Jahr sind es 11 Milliarden Euro – Armutslöhne subventionieren müssen. Das ist nicht der Sinn sozialer Marktwirtschaft.
Es macht auch finanzpolitisch Sinn – Stichwort: Aufstockerei –, dass wir dafür sorgen, dass nicht immer mehr Menschen, die hart arbeiten, sich ergänzendes Arbeitslosengeld II abholen müssen, um überhaupt über die Runden zu kommen.
Jetzt wird Herr Kolb gleich sagen: Aber Herr Heil, die 11 Milliarden Euro werden ja nicht ausschließlich für Vollzeitbeschäftigte ausgegeben. – Ich kenne diese Phrase. Ich sage Ihnen an dieser Stelle: Erstens. Auch Vollzeitbeschäftigte werden auf diese Weise subventioniert. Das werden Sie nicht leugnen.
(Pascal Kober [FDP]: 4 000!)
Zweitens. Selbst wenn nicht alle, die auf diese Weise subventioniert werden, Vollzeitbeschäftigte sind, stellt sich doch nach wie vor die Frage, warum Sie Teilzeitbeschäftigten zumuten wollen, Löhne in Höhe von 3 oder 4 Euro zu akzeptieren
(Pascal Kober [FDP]: Das ist nicht wahr, Herr Heil!)
und ergänzendes Arbeitslosengeld II vom Amt abholen zu müssen. Das macht keinen Sinn.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ein Mindestlohn macht sowohl ordnungspolitisch und finanzpolitisch als auch wirtschaftspolitisch durchaus Sinn. Sosehr ich dagegen bin, unsere Exporterfolge kleinzureden und zu glauben, wir müssten schlechtere Produkte herstellen, damit andere Länder in Europa bessere Chancen haben, so sehr bin ich der Meinung, dass wir eine stärkere Binnennachfrage in Deutschland brauchen. Da spielt – nicht nur, aber auch – die Frage von verbindlichen Lohnuntergrenzen eine Rolle; denn eine solche Untergrenze würde das gesamte Tarifgefüge stabilisieren und dazu führen, dass Menschen mehr Geld in der Tasche haben. Das sind gerade Menschen mit einem geringen Verdienst, die ihr Geld nicht in internationale Finanzblasen stecken, sondern in den Konsum. Das ist der Grund, warum ich sage, dass ein Mindestlohn auch wirtschaftspolitisch Sinn macht.
Last, but not least: Auch im Hinblick auf die Einnahmebasis unserer sozialen Sicherungssysteme in Deutschland macht es Sinn, dass wir zu stabileren Lohnuntergrenzen kommen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie uns schon nicht glauben – das kann Ihnen keiner vorwerfen; es ist im politischen Geschäft so üblich, dass die Regierung alles schlecht findet, was die Opposition gut findet –, dann sollten Sie wenigstens das zur Kenntnis nehmen, was der Deutsche Juristentag, der unverdächtig ist, eine Vorfeldorganisation der Sozialdemokratie oder der Gewerkschaften zu sein, Ihnen ins Stammbuch geschrieben hat. Wenn Sie das nicht glauben, dann schauen Sie sich einmal in Europa um. Über 20 Länder in Europa kennen gesetzliche Lohnuntergrenzen.
(Zuruf von der LINKEN: Genau!)
Ihre ideologische Borniertheit ist das Einzige, was im Moment Mindestlöhnen in Deutschland entgegensteht. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn wir in diesem Bereich bis zum 1. Mai finanzpolitisch, wirtschaftspolitisch und sozialpolitisch nicht vorankommen, dann werden wir nicht nur diejenigen Menschen demotivieren, deren Leistung sich tatsächlich lohnen soll, sondern dann werden wir die Gesellschaft weiter spalten. Sie, meine Damen und Herren von der schwarz-gelben Koalition, sind die Spalter in diesem Land. Sie vertiefen die Spaltung zwischen Geringverdienern und Arbeitslosen.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Nur noch dieser Gedanke. – Wenn Herr Westerwelle, der derzeitige Parteivorsitzende der FDP, wiederum das Spiel betreibt, Geringverdiener gegen Arbeitslose auszuspielen, dann kann ich nur sagen: Das ist weder christlich noch liberal, sondern es ist zynisch. Das merken die Leute. Deshalb werden Sie die Quittung bekommen.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)