Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Hubertus Heil hat das Wort für die SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD)
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin, auch von mir herzlichen Glückwunsch zu dem großen Theaterdonner. Aber nach Ihrer Rede und Ihrer Antwort auf die Kurzintervention kann ich nur feststellen, dass Ihre warmen Worte nicht zu Ihren kalten Taten passen. Denn das, worüber wir heute reden, ist die Realität.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Frau von der Leyen, Sie hätten vorhin, als es um Sparnotwendigkeiten ging – der Bundesfinanzminister weiß das –, einmal darauf hinweisen können, dass wir im Jahr 2008, also vor der Finanzkrise, unter Bundesminister Peer Steinbrück die Situation und Entwicklung hatten, dass, gesamtstaatlich gesprochen, Bund, Länder und Kommunen und im Übrigen auch die Sozialversicherungen das erste Mal seit 40 Jahren in der Balance waren und dass wir ohne die Finanzkrise im Jahr 2010 in Deutschland einen ausgeglichenen Bundeshaushalt gehabt hätten. Ergo – das muss man deutlich sagen – ist die Staatsfinanzierungskrise, die wir jetzt zu bewältigen haben, Herr Finanzminister Schäuble und Frau von der Leyen, das Ergebnis einer furchtbaren Finanzkrise, für die allerdings die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die arbeitslosen Menschen in diesem Land die Zeche zahlen sollen, wenn es nach Ihren Plänen geht. Das ist ungerecht, meine Damen und Herren.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Frau von der Leyen, da nützen auch keine Tricksereien mit dem Hinweis auf die Größe Ihres Haushalts; denn Sie haben gleichzeitig verschwiegen, dass der größte Posten in Ihrem Haushalt der Bundeszuschuss zur Rentenkasse ist. Den wollen Sie ja wohl nicht antasten. Sie tun das aber mittelbar, indem Sie der Rentenkasse Beiträge entziehen, die der Rentenkasse für arbeitslose Menschen zustehen. Sie schmälern damit die Rücklagen, die nicht Sie, sondern Ihre Amtsvorgänger aufgebaut haben – aber anyway. Sie holen das Geld vor allen Dingen – das ist unser Hauptvorwurf – bei den langzeitarbeitslosen Menschen und bei den Maßnahmen, die helfen würden, langzeitarbeitslose Menschen, ihre Familien und die Kinder aus der Armut herauszuführen. Das ist nicht nur kurzsichtig, es ist ungerecht.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Ich muss sagen: Man kann sich auch dummsparen.
Ich will Ihnen an dieser Stelle Folgendes sagen: Sie verweisen auf eine gute Entwicklung am Arbeitsmarkt. Das bestreitet niemand, was die kurzzeitige Arbeitslosigkeit betrifft. Sie ist tatsächlich zurückgegangen. Der Arbeitsmarkt ist in der Krise durch die Maßnahmen, die die Große Koalition durchgesetzt hat, und durch die Reformen der rot-grünen Vorgängerregierung relativ stabil geblieben. Durch das, was Olaf Scholz und Peer Steinbrück gemacht haben, ist Deutschlands Arbeitsmarkt robust durch die Krise gekommen.
Aber was Ihnen fehlt, Frau von der Leyen, ist neben der PR-Aktion, sich neben die guten Zahlen zu stellen, ein Konzept, wie wir in Zukunft einen gespaltenen Arbeitsmarkt verhindern. Ich will Ihnen sagen, was ich damit meine: Wir haben möglicherweise im nächsten Jahrzehnt in vielen Branchen und Regionen die Situation, dass sich auf der einen Seite Unternehmen tatsächlich über Fachkräftemangel zu beklagen haben. Auf der anderen Seite haben wir einen Sockel von verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit, den Sie so belassen, wenn Sie die Menschen durch aktive Arbeitsmarktpolitik und die entsprechenden Maßnahmen nicht aus dieser Arbeitslosigkeit herausholen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Sie können nicht pauschal von Arbeitslosenzahlen und Statistiken sprechen, wenn Sie nicht die Unterscheidung zwischen denjenigen haben, die kurzzeitig arbeitslos sind und gottlob möglichst schnell wieder aus der Arbeitslosigkeit herauskommen, und denjenigen Menschen, die dauerhaft langzeitarbeitslos sind. Da passen die warmen Worte von Frau von der Leyen nicht mit ihren kalten Taten zusammen.
Wer war es denn, der im Frühjahr dieses Jahres – das waren Sie, Frau von der Leyen – vollmundig und großspurig von einer Vermittlungsoffensive zugunsten von Jugendlichen mit schlechter Qualifikation, von Alleinerziehenden und von älteren Langzeitarbeitslosen gesprochen hat? Es ist richtig, dass wir in Bezug auf diese verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit etwas tun. Wer die Mittel für diese Maßnahmen aber um 20 Prozent zulasten der langzeitarbeitslosen Menschen kürzt, obwohl sie notwendig sind, damit sie nicht mit 5 Euro mehr abgespeist werden, sondern aus der Arbeitslosigkeit herauskommen, der handelt zulasten dieser Menschen, der spart kurzfristig für den Bundeshaushalt 2011 und der sorgt langfristig dafür, dass dieser Staat und diese Gesellschaft dauerhafte Arbeitslosigkeit und nicht Arbeit finanzieren. Das ist der Fehler in Ihrer Rechnung, Frau Kollegin.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])
Gleichen wir deshalb doch einmal Ihre Ankündigungen und Ihre Statistik mit der Realität in Deutschland ab. Frau Pothmer hat das netterweise für Hildesheim getan, ich tue das für den Nachbarbereich, nämlich für den Landkreis Peine in Niedersachsen. Das ist eine Optionskommune, die Sie möglicherweise aus Ihrer früheren Zeit als Ministerin in Niedersachsen kennen, und meine Heimat.
Mein Landrat, der diese Optionskommune, wie gesagt, in Eigenregie leitet und für die Betreuung von Langzeitarbeitslosen und für eine aktive Arbeitsmarktpolitik Verantwortung trägt – er tut das übrigens sehr verantwortungsvoll und gut –, schreibt mir, dass die Mittelkürzungen im nächsten Jahr ein Minus von 25 Prozent zulasten von behinderten Menschen, von Jugendlichen mit schlechter Qualifikation, von Langzeitarbeitslosen, von alleinerziehenden Frauen, von Kindern und von Älteren im Landkreis Peine bedeuten werden.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Genau!)
Deshalb, Frau von der Leyen, passen bei Ihnen Reden und Handeln einfach nicht zusammen. Sie können Ihren PR-Apparat noch so stark vergrößern: Das werden Sie nicht überbrücken.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir reden hier ja über den Haushalt und nehmen zur Kenntnis, dass Sie auf der einen Seite 20 Prozent der Mittel für die aktive Arbeitsmarktpolitik streichen, während Sie die Mittel für die Öffentlichkeitsarbeit von Ursula von der Leyen auf der anderen Seite um sage und schreibe 29 Prozent aufstocken, um das Gap zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu überbrücken.
(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)
Ich sage Ihnen: PR ersetzt nicht gute Politik. Das werden die Menschen in diesem Land erleben, und Sie werden es auch erleben, Frau von der Leyen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der gespaltene Arbeitsmarkt ist eine reale Gefahr, und zwar nicht nur für die wirtschaftliche und die soziale Entwicklung in diesem Land, sondern auch für die gesellschaftliche Entwicklung in unserer Demokratie. Wenn Menschen keine Perspektiven und keine Chancen mehr haben und wenn sie sich in diesem Land nicht gebraucht fühlen, dann ist das Zündstoff und Sprengstoff für die demokratische Entwicklung in diesem Land.
(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Richtig! Deshalb bringen wir die Menschen in Arbeit!)
Sie legen hier tatsächlich die Lunte, wenn Sie dafür sorgen, dass Menschen dauerhaft abgehängt sind.
Wenn dann auch noch das passiert, was wir vorhin bei dem Haushälterkollegen der CDU, Herrn Fischer, erlebt haben, dass nämlich die Mehrzahl der langzeitarbeitslosen Menschen – wir reden jetzt nicht von denen, die nicht arbeiten wollen und für die Fördern und Fordern genauso gilt; das ist gar keine Frage –, die beispielsweise als Alleinerziehende, weil sie Beruf und Familie nicht gut vereinbaren können, als ältere Langzeitarbeitslose oder als Jugendliche, die nie einen Einstieg gefunden haben, keine Chance auf dauerhafte Beschäftigung haben, gegen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit schlechtem Einkommen ausgespielt werden, dann kann ich nur sagen: Pfui Teufel!
(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Sie tun das doch! Das ist doch das Problem!)
Wer Menschen gegeneinander ausspielt und dieses Land spaltet, der taugt nicht dazu, Verantwortung in diesem Land zu tragen, Herr Fischer. Das müssen Sie sich sagen lassen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das ist Lobbyarbeit, was Sie machen!)
Das ist der Trick, den Guido Westerwelle unter stillschweigender Billigung von Frau von der Leyen die ganze Zeit spielt und den Sie als Sozialministerin übrigens nie kommentiert haben: Diese Bundesregierung kürzt bei Langzeitarbeitslosen und verringert ihre Chancen in der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Sie kürzt das Elterngeld bei den Familien von Langzeitarbeitslosen zulasten der Kinder auf der einen Seite,
(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Stimmt auch nicht! – Norbert Barthle (CDU/CSU): Das stimmt doch nicht!)
um den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf der anderen Seite dann zu erzählen: Schaut einmal hin! Sie sollen nicht so viel bekommen, ihr verdient ja auch wenig; sie sollen nicht mehr bekommen als ihr. – Frau von der Leyen, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gibt es nur eine Konsequenz: Wer will, dass sich Leistung in diesem Land lohnt, wer den Lohnabstand wirklich ernst nimmt, damit die, die arbeiten, mehr in der Tasche haben als die, die nicht arbeiten,
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Der darf nicht SPD wählen!)
der kommt um Mindestlöhne – ich füge hinzu: einen gesetzlichen Mindestlohn – in Deutschland nicht herum.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Dann ist der Lohnabstand noch größer!)
Ich will Ihnen das sagen, weil das auch eine Möglichkeit ist, einmal darüber zu reden, wie Sie mit dem Geld in Ihrem Haushalt umgehen. Sie haben recht: Bei den 11 Milliarden Euro, die Sie für Aufstockung, das heißt für ergänzendes Arbeitslosengeld II, zugunsten von Menschen, die arbeiten, davon aber nicht leben können, zu zahlen haben, geht es nicht nur um den Bereich der Vollzeitbeschäftigung, sondern zu großen Teilen auch um Teilzeitarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer. Warum Sie denen aber einen Stundenlohn von 4 Euro oder 5 Euro zubilligen wollen und nicht auch 7,50 Euro oder 8,50 Euro gönnen, verstehe ich nicht. Auf der anderen Seite haben wir nach wie vor diejenigen, die Vollzeit arbeiten und von ihrer Arbeit nicht leben können. Sie haben vorhin großherzig davon gesprochen, dass Sie für branchenbezogene Mindestlöhne zu haben seien. Dann fangen Sie doch einmal an, an diesem Punkt ein bisschen weiterzumachen, zum Beispiel bei der Weiterbildung. Das hat auch etwas mit Qualität der Arbeitsmarktpolitik zu tun.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Selbst wenn Sie das alles tun – wir sind für den Vorrang tarifvertraglich vereinbarter Mindestlöhne, die wir über das Arbeitnehmer-Entsendegesetz erstrecken –, werden Sie um einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland nicht herumkommen, weil wir Bereiche haben, in denen leider Gottes die Tarifautonomie einfach nicht mehr funktioniert, weil Unternehmen nicht Mitglied in Arbeitgeberverbänden sind, weil der Organisationsgrad der Gewerkschaften in einigen Branchen leider unglaublich niedrig ist.
Das lassen Sie sich zum Schluss sagen, Frau von der Leyen: Ich finde, dass Sie Ihren Aufgaben bei der Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit nicht gewachsen sind.
(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wir haben weniger Arbeitslose, als Sie gehabt haben!)
Ich finde, dass Sie für Kinder vor allen Dingen warme Worte übrig haben, aber kein Bildungspaket, das den Kindern wirklich hilft. Die Anhörung des Bundestages zu Ihrem Gesetz in Sachen Hartz IV und Bildungspaket war doch ein Waterloo. Die Kommunen, der Bundesrechnungshof, der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Caritas, der Paritätische Wohlfahrtsverband,
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Waren Sie dabei?)
alle, die sich auskennen, sagen: Was Sie da machen, ist ein bürokratisches Monstrum. Aber es hilft nicht wirklich den Familien mit Kindern. Machen Sie ein Bildungsinfrastrukturpaket. Das würde wirklich helfen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Genau das haben Sie nicht gemacht!)
Zum Schluss: Sie sind auch die Ministerin, die eigentlich für Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zuständig ist, Frau von der Leyen. Das betrifft die Frage der Tarifeinheit in diesem Land, ein wichtiges Thema, zu dem Sie heute geschwiegen haben, obwohl Arbeitgeber und Gewerkschaften einen Vorschlag dazu gemacht haben. Das betrifft die Einführung von Mindestlöhnen in diesem Land, die möglich wäre. Das betrifft auch die Zeit- und Leiharbeitsbranche. Wir sind nicht für das Verbot von Zeit- und Leiharbeit.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Heil.
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Aber wir sind dafür, dass es auf das konzentriert wird, was notwendig ist, nämlich auf Auftragsspitzen von Unternehmen. Da können Sie hier nicht mit Scheintarifverträgen argumentieren und sich als Hüterin der Tarifautonomie darstellen.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Heil.
Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und Zeitarbeitsmindestlohn heißen Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt. Dafür sind Sie zuständig.
(Beifall bei der SPD und der LINKEN)
Frau von der Leyen, warme Worte sind das eine, kalte Taten sind das andere. Anspruch und Wirklichkeit passen bei Ihnen nicht zusammen. Die Menschen spüren es leider Gottes. Kehren Sie um.
(Beifall bei der SPD)