Rede von Hubertus Heil zum Jahreswirtschaftsbericht 2010 der Bundesregierung


Präsident Dr. Norbert Lammert:

Hubertus Heil ist der nächste Redner für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her¬ren! Nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft beinhaltet der Jahreswirtschaftsbericht drei Punkte:
Es geht darum, deutlich zu machen, welche wirt-schafts- und finanzpolitischen Ziele eine Regierung hat.
Es geht um die geplanten Maßnahmen in der Wirt¬schafts- und Finanzpolitik.
Nicht zuletzt ist der Wirtschaftsminister, also Sie, Herr Brüderle, aufgerufen, mit dem Jahreswirtschaftsbericht eine Stellungnahme zum Jahresgutachten des Sachverständigenrates abzugeben. Wer Ihre Rede gerade gehört hat, hat festgestellt: Sie haben kein Wort zu dem gesagt, was die Sachverständigen Schwarz-Gelb ins Stammbuch geschrieben haben. Das ist kein Wunder; denn das, was Sie da veranstalten, ist aus Sicht der Sachverständigen ziemlich peinlich.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Der Sachverständigenrat hat in seinem Gutachten eine Überschrift gewählt, die erstaunlich ist. An Ihre Adresse gewandt, formuliert er die Warnung, die Zukunft nicht zu verspielen. Wir können es auch konkreter machen. Der Sachverständigenrat sagt: Wenn in diesem Jahr nicht die richtigen Entscheidungen getroffen werden, dann droht Deutschland dauerhaft eine Wachstumsschwäche zulas¬ten von Wohlstand und Beschäftigung. Der Sachverständigenrat sagt auch, dass das, was Schwarz-Gelb mit dem Koalitionsvertrag und dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das nichts anderes als ein Klientelbedienungsgesetz ist – ich komme gleich dazu –, in die Wege leitet, nicht angetan ist, Wachstum wirklich zu generieren.
Auch das von Ihnen angestrebte Betreuungsgeld wird vom Sachverständigenrat als wirtschaftspolitisch und gesellschaftspolitisch kontraproduktiv angesehen. Nicht zuletzt warnen alle Mitglieder des Sachverständigenrates vor dem, was Sie in der Steuerpolitik vorhaben, nämlich Steuersenkungen auf Pump und ohne Gegenfinanzie¬rung. Das ist ein Armutszeugnis. Das, was Sie heute in diesem Zusammenhang verschwiegen haben, ist ein wirtschaftspolitischer Offenbarungseid der schwarz-gel¬ben Bundesregierung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Herr Brüderle, ich kann es Ihnen nicht ersparen: Diese Bundesregierung und auch Sie scheinen in dieser Phase den Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Sie haben keine Konzepte und keine Ideen. Wenn Sie doch einmal Ideen haben, dann gehen sie in die falsche Richtung.
Wollen wir das einmal miteinander durchgehen. Es ist richtig, dass wir im letzten Jahr durch die Weltfinanz- und Weltwirtschaftskrise den tiefsten wirtschaftlichen Einbruch hatten; er lag bei minus 5 Prozent. Dass Deutschland am Arbeitsmarkt und in der Binnennach¬frage bis dato robuster als andere durch diese Krise ge¬kommen ist, das ist nicht vom Himmel gefallen, sondern hat etwas damit zu tun, dass die damalige Bundesregierung, namentlich die Minister Steinbrück, Steinmeier und Scholz, in der Krise das Richtige vorgeschlagen und durchgesetzt hat, bei der Bankenrettung, bei den Konjunkturpaketen und bei der verlängerten Kurzarbeit.

(Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Diese Regierung ist aber abge¬wählt worden, vor allem die SPD!)

– Es ist richtig: Diese Regierung ist abgewählt worden. Aber ihre Maßnahmen wirken noch. Allerdings verlas¬sen Sie diesen Wachstumspfad.
Herr Brüderle, Sie kritisieren etwas, was wir mit Frau Bundeskanzlerin Merkel gemeinsam beschlossen ha¬ben, nämlich die Umweltprämie. Dazu will ich Ihnen sagen: Natürlich ist es ein unkonventionelles Instrument gewesen; aber es hat schnell gewirkt. Es hat die Binnen¬nachfrage stabilisiert, einen Einbruch verhindert, und es hat Tausende von Arbeitsplätzen bei Automobilzuliefe-rern und ähnlichen Unternehmen, auch in meiner Heimatregion, gesichert.

(Beifall bei der SPD)

Das jetzt madig zu machen, ist ziemlich billig. Sie profitieren doch von diesen Maßnahmen.

(Joachim Poß [SPD]: Was sagt die CDU dazu?)

In der jetzigen Situation werden die Wachstumszah¬len durch eine leicht anspringende Exportkonjunktur erfreulicherweise zwar etwas besser. Aber, Herr Brüderle, ob Sie 1,4 oder 1,5 Prozent oder, wie einige In¬stitute prognostizieren, 2 Prozent erzielen,

(Joachim Poß [SPD]: Was sagt Frau Merkel eigentlich dazu?)

all das reicht nicht aus, um den Einbruch, der durch die Nichtauslastung der Kapazitäten unserer Wirtschaft droht, tatsächlich auszugleichen. Deshalb wird die Ar¬beitslosigkeit dieses Jahr steigen. Deshalb wäre es gebo¬ten, dass diese Bundesregierung sagt, was dagegen zu tun ist. Stattdessen tun Sie nichts, um zum Beispiel die Binnennachfrage zu stärken. Im Gegenteil, Sie verunsichern die Menschen,

(Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD])

indem Sie verschweigen, an welchen Stellen Sie nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen kürzen wol¬len. Das führt zu Kaufzurückhaltung. Die Menschen wissen doch: Das dicke Ende kommt noch.
Legen Sie Ihre Pläne, Herr Schäuble, wo Sie zuschla¬gen wollen, auf den Tisch. Wollen Sie angesichts der steigenden Zahl von Arbeitslosen den Beitrag zur Ar¬beitslosenversicherung erhöhen? Wollen Sie im Bereich der Familienleistungen kürzen, wie Frau Homburger es schon vorgeschlagen hat?

(Birgit Homburger [FDP]: Stimmt doch überhaupt nicht!)

Wollen Sie bei den Infrastrukturinvestitionen kürzen? Sie sagen nicht, wo Sie sparen wollen. Das ist unehrlich und wirtschaftspolitisch kontraproduktiv, weil es die Menschen in diesem Land verunsichert.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Die Zahlen verbessern sich leicht; darüber kann man sich freuen. Aber es reicht halt noch nicht aus. Wir haben keinen selbsttragenden Aufschwung. Deshalb ist Politik gefragt, die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen und die richtigen Initiativen zu ergreifen. Wo ist denn Ihr Konzept – Herr zu Guttenberg, kurzzeitig Bundeswirt¬schaftsminister, hat es angekündigt, aber es ist bis heute von Ihnen, Herr Brüderle, nicht erarbeitet worden – für eine moderne und ökologische Industriepolitik? Wo sind Ihre Ansätze für eine moderne Dienstleistungspolitik von Menschen für Menschen, mit Arbeitsangeboten, von de¬nen Menschen auch leben können? Wo ist Ihr Konzept für eine wirkliche Stärkung des Mittelstandes? Sie reden viel über Mittelstandspolitik, tun aber nichts für die kleinen und mittleren Unternehmen. Es gibt zum Beispiel keine Ansätze und Anregungen, was in dieser Krise zu tun ist, damit die Maschinenbauindustrie in Baden-Württemberg, die im Moment notleidend ist, die richtigen Impulse bekommt. Warum werden keine Vorstellungen entwickelt, wie das produzierende Gewerbe etwa durch verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten oder eine Innovationsprämie dabei unterstützt werden kann, in dieser Phase beispielsweise seinen Maschinenpark zu modernisieren?

(Birgit Homburger [FDP]: Haben wir doch gemacht!)

– Ja, aber Sie können in diesem Bereich mehr tun. Sie reden – –

(Birgit Homburger [FDP]: Sie haben es abgeschafft!)

– Brüllen Sie nicht, Frau Homburger. Das steht Ihnen nicht.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Chauvi!)

Steuerliche Förderung von Forschung und Entwick¬lung, wie es in Ihrem Koalitionsvertrag steht, ist ein schönes Schlagwort. Aber wo ist Ihr Konzept? Sie könnten doch mit Tax Credits dafür sorgen, dass kleine und mittlere Unternehmen tatsächlich mehr in Forschung und Entwicklung investieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Hinzu kommt eines: Die Steuergeschenke, die Sie für wenige machen – Stichwort: Mövenpick –, und das, was Sie darüber hinaus noch planen, wird Löcher in die öffentlichen Haushalte von Bund, Ländern und Kommunen reißen und die Investitionskraft der öffentlichen Hand beschädigen; dabei brauchen wir sie 2011 nach wie vor. Frau Roth, die Oberbürgermeisterin von Frank¬furt, CDU-Mitglied, weist Sie darauf hin, dass Sie den Ruin der Kommunen vorbereiten, nichts anderes. Das hat auch wirtschaftliche Folgen.
Sie reden davon, dass mehr in Bildung investiert wer¬den sollte. Wie sollen denn Bund, Länder und Kommunen mehr in Bildung investieren, wenn Sie solche Löcher reißen?

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Und dann redet Ihr Herr Lindner davon – er wird ja gleich auch noch reden –, der Staat sei ein teurer Schwächling.

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie sind ein Schwächling!)

Dazu kann ich an dieser Stelle nur sagen: Wer unseren demokratischen und sozialen Rechtsstaat, der gebraucht wird, um den Rahmen für die soziale Marktwirtschaft zu setzen und durch eine aktive Wirtschaftspolitik einen Beitrag für Wachstum zu leisten, der jetzt gefragt ist, mehr in Bildung zu investieren, um einen nachhaltigen Wachstumspfad einzuschlagen, erst krankenhausreif re¬det bzw. krankenhausreif durch eine entsprechende Steu¬erpolitik macht und sich dann als Sanitäter anbietet, der amputiert, der verfolgt ein Konzept, das vorne und hin¬ten nicht stimmt. Sie werden scheitern, wenn Sie so wei-termachen. Kehren Sie um!
Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)