Der große Historiker Tony Judt beschwört die Sozialdemokratie, um jeden Preis die zivilisatorischen und sozialstaatlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu verteidigen – zu Recht. Aber bloße Defensive kann nicht das sozialdemokratische Leitmotiv unserer Zeit sein. Ohne einen positiven Fortschrittsbegriff würden wir das Erreichte erst recht wieder einbüßen.
Unter dem prägnanten Titel „What is Living and What is Dead in Social Democracy?“ hat Tony Judt jüngst eindringlich davor gewarnt, die zivilisatorische Errungenschaft des modernen Wohlfahrtsstaates – fahrlässig oder mutwillig – dem Verfall preiszugeben. Die Intervention des renommierten britischen Historikers ist ein wichtiger Beitrag zu der Debatte, die Sozialdemokraten und andere Progressive angesichts der Krise der linken Mitte in nahezu allen europäischen Staaten heute miteinander führen müssen. Tony Judt, Autor der sicherlich gedankenreichsten Studie zur Geschichte Europas nach 1945 (Postwar) ist schwer, wahrscheinlich unheilbar erkrankt. Seinen Text über Geschichte und Zukunft von Sozialdemokratie und Wohlfahrtsstaatlichkeit müssen wir als eine Art politisches Vermächtnis begreifen. Und Europas Sozialdemokraten haben allen Grund, gerade Judts Mahnungen sehr ernst zu nehmen: Wir müssen, kurz gesagt, wieder grundsätzlich werden. Gerade jetzt brauchen wir neue Klarheit über unseren eigentlichen Daseinszweck und neues Selbstbewusstsein hinsichtlich unserer Ziele. Gerade jetzt bedürfen Idee und Praxis der sozialen Demokratie wieder einer sehr prinzipiellen Begründung. Lassen wir es hieran fehlen, werden wir Sozialdemokraten aus dem historischen Tief nicht wieder herausfinden, in das unsere politische Bewegung geraten ist.
Tony Judt erinnert uns nachdrücklich daran, wie die modernen Wohlfahrtsstaaten und sozialen Demokratien in Europa entstanden sind: als bewusste politische Antworten auf die katastrophalen Wirtschaftskrisen, die Vernichtungskriege und Verwerfungen, die Europa in der ersten Jahrhunderthälfte heimgesucht hatten – und ihrerseits Folgen tiefsitzender Verunsicherungen waren: „Der Wohlfahrtsstaat hat bemerkenswerte Leistungen vollbracht, vor allem bei der Bekämpfung von Ungleichheit. Die Lücke zwischen Armen und Reichen … schrumpfte in der Generation nach 1945 dramatisch. Im Laufe der Zeit schwand die Angst vor einer Wiederkehr extremistischer Politik. Die westlichen Industrienationen traten in eine friedvolle Ära des Wohlstands und der Sicherheit ein.“
Bollwerke gegen die Rückkehr vergangener Schrecken
Das große Paradox des europäischen Wohlfahrtsmodells bestand nun aber darin, dass er seine Anziehungskraft im Laufe der Zeit selbst untergrub – und zwar ausgerechnet durch den eigenen Erfolg: „Die Generation, die sich noch an die dreißiger Jahre erinnerte, legte verständlicherweise größten Wert darauf, die Institutionen und Systeme der Besteuerung, der sozialen Dienstleistungen und der Daseinsvorsorge zu erhalten, die aus ihrer Sicht Bollwerke gegen die Rückkehr vergangener Schrecken bildeten. Aber schon die folgende Generation begann zu vergessen, warum die Sicherheiten des Wohlfahrtsstaates einmal als so erstrebenswert gegolten hatten.“
Als Historiker des 20. Jahrhunderts hat Tony Judt die Schrecken der Zeit vor 1945 klar vor Augen. Frieden, Wohlstand und soziale Sicherheit, wie wir sie – zumindest im westlichen Europa – in den Nachkriegsjahrzehnten genossen haben, sind eben keine Selbstverständlichkeiten. Vielmehr mussten diese Verhältnisse den Trümmern des Zweiten Weltkrieges erst mühsam abgerungen werden. Keine andere Region der Welt hat in der Nachkriegsära einen solchen Aufstieg aus der Asche erlebt wie der Westen Europas. Doch eben hier, in der Kernzone von Wohlfahrtsstaatlichkeit und sozialer Demokratie, ist die Gleichgültigkeit gegenüber den Voraussetzungen dieses Erfolgsmodells wie auch gegenüber den vielfältigen Gefährdungen des Wohlergehens unserer Gesellschaft gewachsen. Dass auch in Zukunft alles wieder völlig anders kommen kann, als wir es gewohnt sind – genau dafür will uns Tony Judt sensibilisieren.
Verbreitete Geschichtsvergessenheit gibt es – sogar bis hinein in die sozialdemokratischen Parteien selbst. Sie dürfte eine der wesentlichen Ursachen der Krise sein, in welche die europäische Sozialdemokratie geraten ist. Wo die historischen Katastrophen in Vergessenheit geraten, deren nachhaltige Bewältigung überhaupt erst mit Hilfe sozialer Demokratie und Wohlfahrtsstaatlichkeit möglich wurde, da schwindet irgendwann das Bewusstsein für Bedrohung und Gefahren. Vielleicht ist dies unvermeidbar: Angehörige meiner eigenen Generation haben Hunger und Armut, Bombenkrieg und Vertreibung – vielfach Schlüsselerfahrungen der Generation unserer Eltern – nun einmal nicht am eigenen Leibe erlebt. Doch der Preis der Gewöhnung an Zeiten beispiellosen Wohlstands, nie da gewesener Sicherheit und Stabilität ist hoch. Wir haben viel zu verlieren – und wiegen uns oft allzu sorglos in Sicherheit.
Diese Sicherheit ist trügerisch, denn dass die Gefährdungen sogar zunehmen, liegt auf der Hand. Vor gerade erst anderthalb Jahren ist die globale Wirtschafts- und Finanzordnung nur mit knapper Not an dem vorbeigeschrammt, was August Bebel einst den „großen Kladderadatsch“ genannt hätte. „Nur wenige im Westen sind alt genug, um zu wissen, was genau es bedeutet, die gesamte bisherige Welt zusammenbrechen zu sehen“, merkt Tony Judt an. Genau dies aber wäre im Herbst 2008 um ein Haar geschehen. Klimawandel, Ressourcenmangel, Nahrungsknappheit, Migrationsströme, Fundamentalismus und Terrorismus sind globale Entwicklungen, die unsere bisherige Art zu leben zunehmend in Frage stellen. Große demografische Verschiebungen, eine immer wissensintensivere Wirtschaft und enorme Veränderungen der Arbeitsgesellschaft kommen im eigenen Land auf uns zu – mit offenem Ausgang: „Wir haben keine Ahnung, was für eine Welt unsere Kinder von uns erben werden“, schreibt Judt, „aber wir können uns jedenfalls nicht länger vormachen, diese Welt werde unserer eigenen noch auf beruhigende Weise ähnlich sein.“
Die Sozialdemokratie als „Partei der Angst“?
Die große Frage ist nun, welche Konsequenzen Sozialdemokraten aus dieser Konstellation ziehen sollten. Tony Judt selbst kommt zu einem überraschenden Schluss: Ganz entgegen ihrem historischen Selbstverständnis als Partei des Fortschritts müsse die Sozialdemokratie aufhören, sich als Motor von Erneuerung und Modernisierung zu begreifen. „Wenn die Sozialdemokratie eine Zukunft hat“, so lautet die Pointe der Ausführungen Judts, „dann als Sozialdemokratie der Angst“ – nämlich der Angst davor, dass die großen Errungenschaften und Fortschritte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder verloren gehen könnten: „Die politische Linke hat, um es ganz deutlich zu sagen, etwas zu bewahren … Sozialdemokraten müssen entschiedener über die Fortschritte der Vergangenheit sprechen. Die Entwicklung eines Staates der sozialen Dienstleistungen, der ein Jahrhundert währende Ausbau eines öffentlichen Sektors, dessen Güter unsere kollektive Identität und unsere gemeinsamen Ziele zum Ausdruck bringen und prägen, die Durchsetzung der allgemeinen Wohlfahrt als ein Recht und ihre Gewährleistung als eine soziale Pflicht – das waren keine geringen Leistungen.“
Im Gegenteil: Das waren große historische Leistungen, auf denen auch unser heutiges deutsches Gemeinwesen errichtet worden ist. Tony Judt hat deshalb völlig recht, wenn er uns auffordert, mit Leidenschaft für den Erhalt dieser großen „Fortschritte der Vergangenheit“ zu kämpfen: „Die Anstrengungen eines ganzen Jahrhunderts aufzugeben ist Verrat nicht nur an denen, die vor uns da waren, sondern auch an künftigen Generationen.“ Wer als Sozialdemokrat je Zweifel gehegt hat, ob seine eigene politische Bewegung noch eine historische Mission besitze – hier findet er neue Gewissheit.
Die sozialdemokratische Dialektik unserer Zeit
Aber genügt das? Natürlich lohnt es sich, für eine Sozialdemokratie zu kämpfen, die einmal erreichte zivilisatorische und sozialstaatliche Errungenschaften verteidigt. In diesem bestimmten Sinne, darin stimme ich Tony Judt ausdrücklich zu, müssen Sozialdemokraten tatsächlich heuteKonservative sein. Allerdings sollten wir dabei – und das ist mein wesentlicher Einwand gegen Tony Judts emphatischen Appell – besonders kluge und kreative Konservative sein. Und das heißt vor allem: Wir dürfen nicht unsere Mittel mit unseren Zielen verwechseln. Würden wir zwar bestimmte politische Instrumente verteidigen, darüber aber zugleich die überdauernden Ziele der sozialen Demokratie aus den Augen verlieren, dann wären wir eindeutig zukonservativ. Darum wird die Sozialdemokratie ihren Kampf für die Bewahrung des im vergangenen Jahrhundert Erreichten im 21. Jahrhundert getreu dem auf Giuseppe Tomasi di Lampedusa zurückgehenden Leitmotivs eines aufgeklärten und reflektierten Konservatismus führen müssen: „Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, müssen wir zulassen, dass sich alles verändert.“ Das ist die sozialdemokratische Dialektik unserer Zeit.
Ich bin überzeugt: Mit bloßem Festhalten am einmal Erkämpften würden wir Sozialdemokraten politisch nicht mehr aus der Defensive kommen. Ja, wir haben allen Anlass, die Abwicklung der in den Nachkriegsjahrzehnten errichteten sozialen Demokratien in Europa zu befürchten und zu bekämpfen. Doch „Parteien der Angst“ vor dem weiteren Abbau vormals erreichter Fortschritte werden stets nur zeitweilige gesellschaftliche Sperrminoritäten auf die Beine bringen. Stattdessen müssen wir zunächst einmal wieder den Mut entwickeln, die große Idee der sozialen Demokratie auch im 21. Jahrhundert für prinzipiell mehrheitsfähig zu halten und offensiv zu vertreten. Dabei sind wir Sozialdemokraten überall in Europa darauf angewiesen, dass mehr Menschen verstehen, wie kostbar und zugleich zerbrechlich unsere nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Form des Zusammenlebens ist. Das setzt historisches Wissen voraus – und die Einsicht, dass alle Vorstellungen von einer völlig anderen, perfekten Welt, ganz und gar illusorisch sind.
Es mag uns nicht gefallen, aber die „friedvolle Ära des Wohlstands und der Sicherheit“, die wir im Westen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben, ist zu Ende. In Zukunft befahren wir unkartierte Gewässer. In dieser Lage verteidigen wir Sozialdemokraten die Idee des sozialen Fortschritts am besten dadurch, dass wir sie in veränderten Verhältnissen immer wieder neu deklinieren. Das ist schwierig. Denn ob eine politische Reform die intelligente Weiterentwicklung sozialer Demokratie bedeutet oder den Verrat an unerlässlichen Werten und Zielen, das wird immer wieder aufs Neue umstritten sein. Genau dies macht Orte des gründlichen Nachdenkens über die Bedingungen und Möglichkeiten sozialer Demokratie im 21. Jahrhundert so unerlässlich. Die Berliner Republik ist solch ein Ort. Wir werden diese Zeitschrift in Zukunft noch dringender brauchen als in ihren ersten zehn Jahren. «