»Freiheit hat zwei Töchter: Bildung und Gesundheit.« Dieser Satz wird dem großen deutschen Arzt und liberalen Politiker Rudolf Virchow zugeschrieben. Dies ist immer noch ein schönes Motto, wenn es darum geht, die Lebenschancen von Kindern zu verbessern .Aber schöne Worte und Sonntagsreden allein werden nicht ausreichen. Die streikenden Studierenden und Schülerinnen und Schüler haben der Debatte einen neuen Schub gegeben. Wir nehmen ihre Proteste und Forderungen sehr ernst. Gute Bildung für alle sicherzustellen, das ist keine leichte Aufgabe. Wir müssen das Bildungswesen grundlegend erneuern und besser finanzieren.
Nach wie vor entscheidet die soziale Herkunft, also der Geldbeutel der Eltern, zu stark über Bildungschancen und das gesunde Aufwachsen unserer Kinder. Ein Kind, das in einer Akademiker-Familie aufwächst, hat eine fast viermal so hohe Chancen später zu studieren als ein Arbeiterkind. Eine klassische Bildungsbiografie unterliegt einer Mehrfachauslese. Sie beginnt bereits in der Grundschule, so dass von 100 Grundschulkindern insgesamt nur 21 einen Hochschulabschluss erlangen. Alle Untersuchungen zur sozialen Lage in Deutschland weisen in dieselbe Richtung: Materielle Not paart sich mit mangelnden Bildungschancen zu verfestigter Armut. Die Folge: Armut vererbt sich.
Diesen Zustand darf sich unser Land nicht länger leisten. Der Teufelskreis aus materieller Not, fehlenden Bildungschancen und Arbeitslosigkeit muss durchbrochen werden. Dafür ist es notwendig, auf die frühe und individuelle Förderung von Kindern und auf längeres gemeinsames Lernen zu setzen. Erste Schritte in diese Richtung sind gemacht. So werden wir bis zum Jahr 2013 den Rechtsanspruch auf gute Betreuung ab dem ersten Geburtstag für jedes Kind verwirklichen.
Frühkindliche Förderung
Im kommenden Jahrzehnt müssen wir außerdem dafür sorgen, dass nicht nur ausreichend Kinderbetreuungsplätze zur Verfügung stehen, sondern auch die Qualität der frühkindlichen Förderung verbessert wird. Krippe und Kita müssen entsprechend ausgestattet sein. Ein besserer Personalschlüssel in Krippen, Kitas und der Tagespflege ist dafür ein erster Schritt. Die individuelle Förderung erlaubt es, Talente der Kinder zu entdecken und zu pflegen und Startschwierigkeiten auszugleichen. Wir wollen deshalb den Betreuungsschlüssel bundeseinheitlich im Sozialgesetzbuch VIII regeln.
In den letzten Wochen haben die Erzieherinnen und Erzieher im Rahmen der Tarifauseinandersetzungen in der Öffentlichkeit viel Aufmerksamkeit und Sympathie auf sich gezogen. Das ist gut so, denn der Erzieherberuf muss dringend aufgewertet werden – sowohl gesellschaftlich als auch monetär. Mit dem Betreuungsausbau für die unter Dreijährigen, den die Bundesregierung auf Initiative der SPD auf den Weg gebracht hat, wird der Bedarf an guten Erzieherinnen und Erziehern in den nächsten Jahren stark wachsen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft hat ausgerechnet, dass sich bis 2015 ein Personalmangel von rund 27.000 Erzieherinnen und Erziehern abzeichnet. Es sind dringend bessere Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten für Erzieherinnen nötig. Sie sollen die Chance erhalten, sich berufsbegleitend weiterzubilden. Wir wollen sowohl den grundständigen Ausbildungsweg über die Fachschule als auch die Möglichkeit der Fachhochschulausbildung fördern. Gerade für Erzieherinnen und Erzieher in Leitungsfunktionen ist eine akademische Ausbildung ein notwendiger Schritt. Dass eine höhere Qualifikation auch bessere Verdienstmöglichkeiten eröffnet, ist selbstverständlich. Es wäre ein überaus begrüßenswerter Nebeneffekt, wenn dadurch auch mehr Männer für diesen Beruf gewonnen werden könnten.
Darüber hinaus müssen wir dafür sorgen, dass die Kinderbetreuung als Teil des Bildungssystems Schritt für Schritt beitragsfrei wird. In den SPD-geführten Bundesländern haben wir den Einstieg in die Beitragsfreiheit bereits vollzogen. So sind in Rheinland-Pfalz bereits die letzten beiden Kita-Jahre vor der Einschulung beitragsfrei. Bis 2010 wird die Kita für alle Kinder ab zwei Jahren kostenlos sein.
Ein wesentlicher Schlüssel für bessere Bildungschancen ist, die Übergänge von den Kitas und Kindergärten zu den Grundschulen zu verbessern. Ich plädiere deshalb für ein gemeinsames vorschulisches Jahr für alle Kinder. Darüber hinaus muss die Sprachförderung zu einem Schwerpunkt der vorschulischen Bildung werden: Jedes Kind soll vor der Schule die deutsche Sprache erlernen können.
Notwendige Verbesserungen in den Schulen
Im Hinblick auf die Schulen können wir ebenfalls auf Maßnahmen der SPD-geführten Bundesregierung aufbauen: Die Regierung Gerhard Schröder hatte ein weit reichendes Ganztagsschulprogramm aufgelegt. Mit vier Milliarden Euro konnte seitdem der Aus- und Aufbau von bundesweit rund 7.000 Ganztagsschulen gefördert werden. Dies hat einen bildungspolitischen Paradigmenwechsel in der Schullandschaft eingeleitet, selbst konservative Bildungspolitiker haben seitdem ihre Fundamentalblockade aufgeben müssen. Im kommenden Jahrzehnt wird die SPD dafür sorgen, dass es ein flächendeckendes Angebot von gebundenen Ganztagsschulplätzen gibt. Gebundene Angebote bedeuten, dass Ganztagsschule mehr ist als Schule plus Mittagessen. Die Schule wird zum Lern- und Lebensort. Sie öffnet sich in den Kiez und bindet wichtige Partner wie zum Beispiel Sportvereine, Jugendverbände, Musikschulen oder die Jugendfeuerwehr in den Schulalltag mit ein. Schule muss sich stärker für das zivilgesellschaftliche Engagement öffnen. Damit Schule diesem Anspruch gerecht werden kann, muss es zusätzlich zu dem pädagogischen Angebot von Lehrerinnen und Lehrern flächendeckend Schulsozialarbeit geben.
Wenn es gelingen soll, Kinder und Jugendliche mit diesen Maßnahmen besser und individueller in ihren Talenten zu fördern, dürfen wir das längere gemeinsame Lernen nicht vernachlässigen. Das überkommene viergliedrige Schulsystem, das in einigen CDU-geführten Bundesländern Kinder bereits nach der vierten Klasse in die jeweiligen Schulformen einsortiert, verbaut Chancen. Es geht dabei nicht darum, dass jedes Kind Abitur machen muss. Aber es muss darum gehen, Bildungsmöglichkeiten für alle länger offen zu halten.
Dazu gehört auch, die finanziellen Hürden auf dem Bildungsweg zu beseitigen. Wir wollen Jugendliche aus einkommensschwachen Familien besser dabei unterstützen, das Abitur zu machen. Deshalb werden wir das Schüler-BAföG, das die Kohl-Regierung empfindlich reduziert hat, wieder zu einem wirklichen Instrument des sozialen Ausgleichs in der Bildung machen. Jugendliche aus einkommensschwachen Familien sollen ab dem Eintritt in die gymnasiale Oberstufe ein Schüler-BAföG erhalten. Damit wollen wir die Chancengleichheit in der schulischen Bildung verbessern und die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten erhöhen. Gerade Deutschland als selbst ernanntes »Land der Ideen« braucht dringend hoch qualifizierte und gut ausgebildete Menschen. Schließlich werden wir im weltweiten Wettbewerb auch in Zukunft nicht mit den niedrigsten Löhnen, sondern nur mit den besten Produkten, Verfahren und Dienstleistungen erfolgreich sein.
Deutschland braucht deutlich mehr Hochschulabsolventen
Im Sinne der Öffnung unserer Hochschulen und einer Kultur der zweiten und dritten Chance werden wir den Zugang zu Hochschulen auch für Fachkräfte ohne Abitur öffnen. Eine qualifizierte Berufsausbildung ist für uns gleichrangig mit einem allgemeinbildenden Abschluss. Das gebührenfreie Erststudium bis einschließlich zum Master ist die wesentliche Voraussetzung für einen Bildungsschub an den Hochschulen. Daneben wollen wir ein starkes Bafög, das regelmäßig an die realen Lebenshaltungskosten angepasst wird. Festgelegte und eingleisige Bildungsbiografien sind nicht mehr zeitgemäß. Es muss möglich sein, dass auch nach einem Berufsabschluss noch studiert werden kann und dass Weiterbildung auch in höherem Alter nicht an einem unflexiblen Bildungssystem scheitert. Wir wollen deshalb die Altersgrenze für das BAföG herauf setzen und dafür sorgen, dass auch berufsbegleitende Teilzeitstudiengänge und weiterbildende Master- Studiengänge gefördert werden können.
Ein exzellentes Wissenschaftssystem kommt nicht ohne herausragende Köpfe aus. Wir befinden uns im internationalen Wettbewerb um die besten Forscherinnen und Forscher. Deshalb wollen wir dem wissenschaftlichen Nachwuchs zuverlässige und unabhängige Karrierewege bieten, unter anderem durch ein Bundesprogramm zur Förderung der Juniorprofessur. Auch wollen wir die Beteiligung von Frauen in Leitungsfunktionen an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen stärken.
Auf kooperative Zusammenarbeit kommt es an
All diese Maßnahmen verlangen einen erheblichen finanziellen Mehraufwand von Bund, Ländern und Kommunen. Bessere Bildung gibt es nicht zum Nulltarif. Wir stehen deshalb zu der Vereinbarung, bis zum Jahre 2015 10 % des Bruttoinlandproduktes für Bildung, Forschung und Entwicklung aufzuwenden. Dafür wird es notwendig sein, dass auch Spitzenverdiener einen Solidarbeitrag leisten. Wir werden deshalb den Spitzensteuersatz um zwei auf 47% erhöhen und damit gut zwei Milliarden Euro zusätzlich für die Bildung mobilisieren. Ein neuer Aufbruch in der Bildungspolitik wird aber nur gelingen, wenn Bund, Länder und Kommunen zielgerichtet gemeinsam agieren. Schulpolitik ist in Deutschland zwar Ländersache. Es gibt darüber hinaus aber eine gesamtstaatliche Bildungsverantwortung.
Derzeit lässt Deutschland wertvolle Potenziale einfach brach liegen: Etwa 80.000 Schülerinnen und Schüler verlassen unsere Schulen jedes Jahr ohne Abschluss; das sind20 % eines jeden Jahrgangs. Diese Bildungsverlierer sind zu einem großen Teil Kinder aus Migrantenfamilien. Der Anteil jugendlicher Migranten an den Schulabbrechern ist fast doppelt so hoch wie der Anteil ihrer deutschen Mitschülerinnen und Mitschüler – und das, obwohl sie durchschnittlich nur 22 % der Schülerschaft stellen. Diese jungen Leute – übrigens vorwiegend junge Männer – haben ohne wenigstens einen Hauptschulabschluss kaum eine Chance, je den Anschluss in eine gute Berufsausbildung zu schaffen. Folglich sind es auch in der nächsten Bildungsphase, der Berufsausbildung, die jugendlichen Migranten, die überproportional von Ausbildungslosigkeit und später dann von Arbeitslosigkeit betroffen sind.
Wenn wir jetzt nicht massiv gegensteuern, produziert unsere Gesellschaft eine verlorene Generation, für die Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von sozialer Unterstützung programmiert ist.
Hinzu kommt: In unserer hochindustrialisierten Volkswirtschaft wird der Bedarf an gering qualifizierten Arbeitskräften immer mehr abnehmen, während der Bedarf an gut ausgebildeten Fachkräften steigt. Nach Schätzungen des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) werden allein zwischen 2010 und 2020 knapp 500.000 Universitätsabsolventen, knapp 700.000 Fachhochschulabsolventen und rund 255.000 Fachkräfte mit Meister/Techniker- oder Fachschulabschluss zusätzlich nachgefragt werden. Parallel dazu wird der Bedarf an Unqualifizierten ohne abgeschlossene Berufsausbildung, so das IZA, um über 400.000 abnehmen. Schon heute suchen die Unternehmen einiger Branchen händeringend nach geeigneten Bewerberinnen und Bewerbern. Ein sozial gerechtes und leistungsfähiges Bildungssystem ist das Fundament für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft, und ein guter Bildungs- und Berufsabschluss ist die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit und Armut.
Viele in meiner Generation erhielten durch gute Bildung die Möglichkeit zu einem selbst bestimmten Lebensweg und zu sozialem Aufstieg. Konservative Politiker, die Studiengebühren einführen und an überkommenen Schulstrukturen festhalten, scheinen das für sich vergessen zu haben. Es gilt, jetzt neue Bildungsleitern aufzustellen, um Aufstieg für alle zu ermöglichen. Schließlich ist Rudolf Virchow auch heute noch aktuell: Bildung ist eine wesentliche Voraussetzung für persönliche Freiheit.