In den vergangenen Jahren wurde unter dem Druck knapper Kassen und hoher Arbeitslosigkeit eine Diskussion darüber geführt, ob wir uns „den Sozialstaat“ noch leisten können. Darüber ist ein wenig in Vergessenheit geraten, dass es im politischen Wettstreit immer auch unterschiedliche Vorstellungen darüber gab, welche Ziele der Sozialstaat verfolgen soll. Die konservative Idee des Sozialstaats war beschränkt auf die Kompensation von Risiken. Die linke Idee des Sozialstaats ging darüber hinaus: Er sollte die Menschen aus Zwängen befreien, sein Ziel war die Emanzipation und die aktive Gestaltung unserer Gesellschaft nach sozialen Grundsätzen. So wichtig es ist, soziale Errungenschaften nicht aufs Spiel zu setzen: Wir müssen aufpassen, dass die Rollen nicht vertauscht werden und sich die SPD eine konservative Vorstellung zueigen macht.
In der Programmatik der SPD ist der Gedanke der Emanzipation nicht neu. „Sozialpolitik will nicht nur reparieren und in Notfällen einspringen, sondern vorausschauend gestalten“, heißt es bereits im Berliner Programm von 1989. Die im April 2006 vorgelegten Leitsätze auf dem Weg zu einem neuen Grundsatzprogramm formulieren die Idee eines vorsorgenden Sozialstaats. Sie knüpfen an die früheren Überlegungen an und entwickeln sie weiter.
Aus meiner Sicht ist der vorsorgende Sozialstaat ein zentraler Baustein eines SPD-Programms für die nächsten Jahrzehnte. Ein erster Kerngedanke lautet: Wo immer möglich, sollten die Fähigkeiten der Menschen gestärkt werden, ihr Leben selbst zu gestalten. Und zweitens leistet der Sozialstaat einen Beitrag, um die Gesellschaft auf Basis der Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu gestalten. Es geht dabei nicht um den Verzicht auf „passive“ Geldzahlungen im Fall von Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Sondern es geht darum, die Qualität des Sozialstaats nicht an der Höhe von Transferleistungen zu messen, sondern an seinen Ergebnissen.
Zu wenig Lebenschancen für zu viele
Der Blick auf die soziale Lage unseres Landes zeigt uns, dass unser Sozialstaat – gemessen an seinen Kosten – zu wenig Lebenschancen und zu wenig Gerechtigkeit hervorbringt. Viele Kinder leben in Armut und bekommen nicht die erforderlichen Fähigkeiten vermittelt, in dieser Welt zurechtzukommen. Die Frauenerwerbsquote ist viel zu gering. Ältere und gering qualifizierte Arbeitnehmer haben miserable Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Unser Gesundheitssystem ist teuer; andere Länder erzielen mit weniger Mitteln bessere Ergebnisse. All das sind Gründe, neu über unseren Sozialstaat nachzudenken. Vier Ziele sind es, die der vorsorgende Sozialstaat verfolgt.
1. Der vorsorgende Sozialstaat setzt auf Chancengleichheit vom frühen Kindesalter an. Bildungsforscher mahnen, dass die Weichen für die persönliche Entwicklung eines Menschen in den ersten Lebensjahren gestellt werden. Wer heute nicht dafür sorgt, dass schon kleine Kinder ihre Begabungen entfalten können, trägt Verantwortung für die soziale Ungleichheit von morgen.
2. Der vorsorgende Sozialstaat stärkt die individuellen Fähigkeiten der Menschen. Wo Lebensläufe brüchiger werden und die Anforderungen der Arbeitsgesellschaft zunehmen, muss ein vorsorgender Sozialstaat Hilfen entlang des Lebenslaufs anbieten, damit Menschen Schritt halten können mit dem Wandel.
3. Der vorsorgende Sozialstaat ist eine Antwort auf die demografische Entwicklung. Der dänische Soziologe Gøsta Esping-Andersen weist zu Recht darauf hin, dass jede gute Rentenpolitik bei den Kindern beginnt. Wir brauchen mehr Kinder in unserem Land und müssen alles dafür tun, dass junge Familien ihre Kinderwünsche realisieren können.
4. Der vorsorgende Sozialstaat ist eine wirtschaftliche Produktivkraft. Je besser die Menschen ausgebildet sind, desto besser sind ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt, desto höher ist ihre Produktivität und somit auch der in der Gesellschaft zu verteilende Wohlstand.
Konkret heißt das: mehr Bildung und Beratung in allen Lebenslagen, eine bessere Familienpolitik, eine aktivierende Arbeitsmarktpolitik, eine Gesundheitspolitik, die auf Vorsorge und den Ausbau sozialer Infrastruktur setzt. Schon diese Stichworte machen deutlich, dass der vorsorgende Sozialstaat kein billiger Sozialstaat ist. Aber er braucht dort, wo seine Finanzierung an die Lohnkosten gekoppelt ist – bei der Renten-, der Kranken-, der Pflege- und der Arbeitslosenversicherung – eine veränderte und breitere Finanzierungsbasis. Wir müssen unseren Sozialstaat stärker durch Steuern finanzieren.
Zu Ende gedacht bedeutet dies, dass der vorsorgende Sozialstaat nicht mehr danach fragt, ob jemand Beamter, Arbeitnehmer oder Selbständiger ist, sondern am Bürgerstatus ansetzt. Weil alle Menschen vom vorsorgenden Sozialstaat profitieren, werden auch alle in die Solidarität einbezogen.