„Diesmal muss es mehr sein“ in: Berliner Republik (2005), Heft 1

Vor sechs Jahren siegte die SPD mit viel „Kohl muss weg“, 2002 halfen Hochwasser und Friedenssehnsucht. Bei der Bundestagswahl in zwei Jahren werden Sozialdemokraten deutlich machen müssen, wie es mit Deutschland weitergehen soll

Wer hätte das im Jahr 2004, annus horribilis der deutschen Sozialdemokratie, noch für möglich gehalten? Die SPD kann sich zumindest wieder Hoffnungen machen, die Bundestagswahl 2006 zu gewinnen. Die personelle Alternative – hier rot-grüne Staatsmänner, dort schwarz-gelbe Leichtmatrosen – sowie die angesichts schwindender Umfragezahlen erkennbar wachsenden Selbstzweifel und Konflikte in der Union nähren diese Hoffnungen. Und doch wird noch einiges mehr zusammenkommen müssen, will die SPD 2006 einen Wahlsieg feiern.

Sehr viel „Kohl muss weg“, ein Niedersachse mit Macherimage und die etwas nebulöse Formel „Innovation und Gerechtigkeit“ reichten 1998. Mit dem Hochwasser in Ostdeutschland und dem deutschen Nein zum amerikanischen Irak-Abenteuer reichte es gegen einen stotternden Stoiber 2002 noch einmal knapp. Nach den Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 und der schwierigen ökonomischen Entwicklung der vergangenen Jahre wird es im kommenden Bundestagswahlkampf weitaus mehr als in der Vergangenheit um die Frage gehen, welche wirtschafts- und sozialpolitischen Alternativen zur Wahl stehen.

Mit etwas Glück wird die Bundesregierung in der kommenden Auseinandersetzung auf die ersten Erfolge ihrer Reformpolitik verweisen können. Auch außenpolitische Erfolge sind bis dahin durchaus möglich und wären ebenso hilfreich. Die Wählerinnen und Wähler werden von der SPD aber zu Recht wissen wollen, welche politischen Schwerpunkte die Partei in den kommenden Jahren setzen will. Die SPD muss im Wahlkampf aber nicht nur den Eindruck verbreiten, dass sie auf die Aufgaben der kommenden Jahre gut vorbereitet ist – sie muss es tatsächlich sein. Selbst wenn das Negativbeispiel der Unionsparteien abschreckt, die in der Steuer- und Gesundheitspolitik beim Versuch der programmatische Konkretisierung Schiffbruch erlitten haben: Auch die Sozialdemokratie braucht eine programmatische Klärung über die Zukunft ihres Kurses. Das Zeitfenster für die notwendige Diskussion öffnet sich nach den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen und schließt sich – bei realistischer Betrachtung – bereits wieder gegen Ende des Jahres 2005.

Die soziale Frage bleibt auf der Agenda

Die Partei täte gut daran, deutlich zu machen, dass die soziale Frage auch in Deutschland für sie ganz oben auf der Tagesordnung bleibt. Der aktuelle Armuts- und Reichtumsbericht macht deutlich, dass hier nicht allein im Gefühl vieler Menschen, sondern auch tatsächlich politischer Handlungsbedarf besteht. Der Bericht scheint die Auffassung von Kritikern der rot-grünen Bundesregierung zu bestätigen: Die Schere zwischen Armut und Reichtum in Deutschland öffnet sich weiter. So wird die Steuerpolitik der Bundesregierung für eine „Umverteilung von unten nach oben“ verantwortlich gemacht. Blickt man differenzierter auf die Wirklichkeit, stellt sich die Entwicklung allerdings anders dar. Ohne die Steuerreformschritte seit 1999, besonders die Erhöhung des Grundfreibetrages, die Senkung des Eingangssteuersatzes und die Beseitigung von Ausnahmetatbeständen (vor allem Abschreibungsmöglichkeiten), wäre die Kluft in der Einkommensverteilung noch stärker gewachsen.

Tatsache ist aber auch, dass die Erhöhung sozialer Leistungen – wie etwa die Anhebung des Kindergeldes – nicht zum nachhaltigen Abbau von Armut geführt hat. Das größte Armutsrisiko in unserer Gesellschaft ist Kinderreichtum. Besonders Alleinerziehende sind davon betroffen. Umgekehrt ist feststellbar, dass nicht jede soziale Kürzung ins Elend stürzt: Trotz Mehrbelastungen bei Rentnerinnen und Rentnern ist die Altersarmut zurückgegangen. Eine Ursache dafür ist die Einführung der sozialen Grundsicherung. Besorgnis erregt aber vor allem, dass die sozialen Schichten in Deutschland auseinanderdriften, während zugleich die soziale Mobilität zwischen ihnen abnimmt. Besonders Bildungschancen – und damit die Lebenschancen von Menschen überhaupt – hängen stärker als in der Vergangenheit und mehr als in anderen OECD-Ländern von der sozialen Herkunft ab. Armut in Deutschland geht oftmals einher mit Bildungsarmut. Neben materieller Armut sind erschreckende Tendenzen sozialer Verwahrlosung feststellbar: So gibt es vielfach familiäre Situationen, die zwar nicht als materielle Armut beschrieben werden können – Statussymbole wie DVD-Player, Mobiltelefon und großes Auto sind vorhanden –, in denen aber dennoch Kindern durch Fehlernährung und Bildungsferne die Entwicklungschancen verbaut werden.

Keine Lebenschancen ohne tätigen Staat

Ohne eine aktive Politik sozialer Inklusion, die auf einen Mix von Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Familien-, Gesundheits- und Integrationspolitik setzt, ist mehr Gerechtigkeit in Deutschland nicht zu erreichen. Es gilt, Antworten auf die Fliehkräfte in unserer Gesellschaft zu finden. Individualisierung, demografische Entwicklung, wirtschaftliche Globalisierung sowie technischer Fortschritt verändern Gesellschaft und Arbeitswelt in Deutschland grundlegend. Die Möglichkeiten dieser Entwicklung zu nutzen und die vorhandenen Risiken zu minimieren setzt staatliche Handlungsfähigkeit voraus. Das sozialdemokratische Ziel muss sein, individuelle Lebenschancen durch eine möglichst diskriminierungsfreie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu eröffnen. Unabhängig von Geschlecht, sozialer oder ethnischer Herkunft betrifft dies vor allem die Partizipation an Bildung, Erwerbsarbeit und Gesundheit. Mit einer Politik für mehr Bildung und Betreuung zur frühen Förderung von Kindern und im Interesse der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist die SPD hier auf dem richtigen Weg. Dasselbe gilt für die Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik.

Kompetenzen klären, Bürokratie abbauen

Neben der Frage, welche Bedingungen auf europäischer Ebene geschaffen werden müssen, um sozialstaatliche Handlungsfähigkeit zu erhalten, gilt es auch im nationalen Rahmen, neue Gestaltungsspielräume für Politik zu entdecken. Dabei geht es zum einen darum, politische Entscheidungs- und Handlungsprozesse durch die Klärung von Kompetenzen und den Abbau von Bürokratie effektiver und effizienter zu gestalten. Zum anderen kommt es darauf an, bei der Finanzierung öffentlichen Handelns die Gesichtspunkte der Umverteilung, der Wettbewerbsfähigkeit und der Arbeitsmarkteffekte vernünftig aufeinander abzustimmen.

Für die Steuer- und Abgabenpolitik ist festzustellen: Im Vergleich der gesamten Steuer- und Abgabenquote liegt Deutschland im europäischen Mittelfeld – auch bei der Besteuerung von Kapitalgesellschaften. Bei den indirekten Steuern liegt Deutschland im unteren Bereich. Bei der Lohn- und Einkommensbesteuerung ebenfalls. Relativ hoch ist die Abgabenquote aber durch die Sozialversicherungsbeiträge. Umverteilung sollte künftig vor allem über ein System der progressiven Lohn- und Einkommenssteuer erfolgen. Auch die Sozialversicherungssysteme sollten über die solidarische Absicherung großer Lebensrisiken weiterhin Umverteilungswirkung entfalten. Wo angesichts der demografischen Entwicklung die Finanzbasis der Sozialversicherungssysteme bedroht ist und durch hohe Beiträge negative Auswirkungen für bestimmte Sektoren des Arbeitsmarktes entstehen, ist eine verstärkte Finanzierung mit direkten und indirekten Steuern sinnvoll. Dabei muss entschieden werden, in welchem Sozialversicherungssystem dies sinnvoll ist.

Möglichkeiten gibt es in allen: Bei der gesetzlichen Krankenversicherung käme beispielsweise eine Umfinanzierung der Familienmitversicherung über Steuern in Betracht; bei der Rentenversicherung ist eine steuerfinanzierte Grundrente möglich; bei der Arbeitslosenversicherung wäre eine Steuerfinanzierung der Arbeitsverwaltung diskussionswürdig; auch bei einer grundlegenden Reform der Pflegeversicherung wäre ein Einstieg in eine stärkere Steuerfinanzierung denkbar. Ingesamt muss es darum gehen, in allen sozialen Sicherungssystemen eine vernünftige Mischung aus Sozialversicherungsbeiträgen, Steuern und individueller Absicherung zu finden.

Kapital- und Unternehmensbesteuerung sollten verstärkt unter wettbewerbs- und weniger unter umverteilungspolitischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Dafür ist es notwendig, bei der Besteuerung von Kapital und persönlichem Einkommen zu unterscheiden. Ein höherer Spitzensteuersatz und damit eine steilere Progressionskurve wären wirtschaftlich dann vertretbar, wenn nicht mehr wie bisher sämtliche Personengesellschaften, also hauptsächlich kleine und mittlere Unternehmen, davon betroffen wären. Die Möglichkeit, Kapital stärker zu besteuern, ist angesichts der hohen internationalen Mobilität begrenzt. Auch hier sollte Deutschland langfristig dem schwedischen Beispiel folgen: Durch eine duale Einkommenssteuer wird Kapital zwar nominell niedriger besteuert als Einkommen aus Arbeit, faktisch jedoch wird ein höheres Steueraufkommen aus Kapital erzielt, weil diese Einkünfte im Land verbleiben. Dies wäre auch im Interesse von mehr Investitionen in Deutschland.

Mehr Steuern in die Sozialversicherungen

Besonders wichtig ist es dabei, neue Beschäftigungsfelder für den deutschen Arbeitsmarkt zu erschließen. Der Energiewirtschaft, dem Maschinenbau und der Chemischen Industrie eröffnen sich durch die Kombination mit neuen Schlüsseltechnologien – Informations- und Kommunikationstechnik, Nanotechnologie und Biotechnologie – große Wachstumspotentiale. Aber auch der Dienstleistungssektor bietet neue Chancen. Ein Vergleich mit skandinavischen Ländern zeigt, dass Deutschland das Potenzial für eine höhere Beschäftigungsquote besitzt: bei qualifizierten Dienstleistungen (auf den Gebieten der Bildung, der Gesundheit und in den sozialen Diensten) sowie bei einfachen Dienstleistungen (etwa im Handel, in Restaurants, in Hotels und bei Instandhaltungen). Diese Dienstleistungen werden in der Regel lokal erbracht und konsumiert und stehen damit – im Gegensatz zu Landwirtschaft und Industrie, Bauwirtschaft, Transport und Kommunikation, Banken und Versicherungen, sowie allen Arten von Unternehmensdienstleitungen – nicht in verschärftem internationalen Wettbewerb. Diese Dienstleistungen können sowohl privat als auch öffentlich erbracht werden. Der öffentliche Sektor kann also durchaus für mehr qualifizierte Dienstleistungsbeschäftigung sorgen, wenn es gelingt, öffentliche Mittel künftig weniger für konsumtive Aufgaben als für sozialinvestive Aufgaben wie Bildung, Gesundheit und soziale Dienste zu mobilisieren.

Vor allem die privatwirtschaftlich erbrachten einfachen Dienstleistungen sind preisempfindlich. Ihre geringen Qualifikationsanforderungen begünstigen es, sie durch Automaten, Selbstbedienung und Eigenarbeit zu ersetzen. Die Nachfrage nach privaten, auf den Menschen bezogene Dienstleistungen in Deutschland leidet deshalb unter den hohen Lohnnebenkosten. Innerhalb dieser sind die in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegenen Sozialversicherungsbeiträge die bei weitem wichtigsten Faktoren. Eine Senkung der Lohnnebenkosten ohne eine weitere Privatisierung sozialer Lebensrisiken kann nur gelingen, wenn die Sozialversicherungsbeiträge künftig mit Hilfe eines stärkeren steuerlichen Anteils an der Finanzierung gesenkt werden können.

Für Steuersenkungen fehlt der Spielraum

Sowohl für einen stärker sozialinvestiven öffentlichen Sektor, der qualifizierte Beschäftigung schafft, als auch für eine Senkung der Lohnnebenkosten im Interesse von mehr Beschäftigung auch bei einfachen privaten Dienstleistungen, ist eine verstärkte steuerliche Ertragskraft erforderlich. Das bedeutet gleichzeitig, dass für Steuersenkungen in der kommenden Legislaturperiode kein Spielraum mehr bestehen wird. Diese schwierige Wahrheit zu vermitteln heißt, sich mit der über Jahre publizierten herrschenden Meinung in Deutschland („Steuern runter macht Deutschland munter!“) auseinanderzusetzen. Zustimmung zu dieser Position wird nur erlangen, wer einerseits überzeugend darauf hinweist, dass und warumstaatliche Handlungsfähigkeit für ein soziales Gemeinwesen notwendig ist, und andererseits gleichzeitig nicht versucht, Schwierigkeiten zu leugnen, denen viele Menschen in Deutschland alltäglich begegnen.

Es gilt die Regel: Wer ein funktionierendes Gemeinwesen will, muss auch bereit sein, dafür nach seiner Leistungskraft Steuern zu bezahlen. Es ist die Verantwortung der Politik, durch die Beseitigung vorhandener Missstände dem Gefühl entgegenzuwirken, Steuern für ein marodes System zu zahlen (siehe hierzu auch den Beitrag von Wouter Bos in dieser Ausgabe). Dass interessierte politische Kreise bei Konservativen und Liberalen sowie die mit ihnen verbündeten Verbände ein Interesse daran haben, den Staat in Deutschland krankenhausreif zu reden, um sich sodann als Notärzte anzubieten, muss dabei berücksichtigt werden. Tatsache bleibt demgegenüber: Der Sozialstaat in Deutschland ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die es gegenüber denjenigen zu verteidigen gilt, die ihn durch einen reinen Fürsorgestaat mit minimalen Leistungen ersetzen wollen. Tatsache ist aber auch, dass das derzeitige deutsche Sozialsystem in vielen Fällen bestenfalls den sozialen Status quo konserviert. Der erneuerte Sozialstaat muss zwar weiterhin das notwendige Maß an sozialer Sicherheit gewährleisten – vor allem aber muss er Menschen stärken und ihnen neue Chancen eröffnen. Seine Qualität bemisst sich also nicht an der Quantität des Geldes, das er umverteilt. Die Qualität des Sozialstaates erweist sich vielmehr gerade darin, ob er tatsächlich Lebenschancen für Menschen eröffnet, ob er ihnen tatsächlich gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Er muss also integrieren, aktivieren und in Menschen investieren.

Es bleibt also genug zu tun in den nächsten Jahren. Viele der genannten Themen sind bereits in Angriff genommen, manches andere kann durchaus auch noch vor der Bundestagswahl angegangen werden. Naiv wäre es allerdings, alles kurzfristig und gleichzeitig bewegen zu wollen. Es ist wahr: Die soziale Erneuerung Deutschlands braucht lange Linien. Aber diese Linien müssen auch klar erkennbar sein. Nur wenn das gelingt, wird die SPD 2006 gewinnen.