Die aktuelle Grundsatzprogrammdebatte der SPD erinnert fatal an den Revisionismusstreit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie damals geht es heute darum, die Lücke zwischen überkommener Programmatik und veränderter Wirklichkeit zu schließen
„Je gefährdeter die Welt, desto nötiger der Fortschritt. Wer Bewahrenswertes erhalten will, muss verändern …“
Berliner Programm der SPD von 1989
„Warum eigentlich ein neues Grundsatzprogramm?“ fragen in diesen Tagen einige selbst ernannte Parteilinke der SPD. „Wir haben doch eins. Okay, an der einen oder anderen Stelle hat sich in den letzten 15 Jahren etwas verändert, also können wir leichte Korrekturen vornehmen – aber doch nicht grundsätzlich! Wer das anders sieht, der will der SPD offenbar ihre Grundwerte rauben, ihr Menschenbild stehlen, ihre Geschichte klauen und die Partei auf neoliberalen Kurs bringen.“ Solche und ähnliche Äußerungen sind derzeit zum Fortgang der sozialdemokratischen Grundsatzprogrammdebatte zu hören.
Auslöser für Reaktionen dieser Art ist die Debatte um einen Beschluss des SPD-Parteivorstands, der betont, dass die Programmdebatte auf der Basis des Berliner Programms zu erfolgen habe. Dieser Beschluss lässt zwei Lesarten für den Fortgang der Debatte zu: Entweder soll es – wie offenbar von einigen gewünscht – nur zu marginalen Änderungen des Bestehenden kommen. Oder die Partei soll sich ein grundlegend neues Programm geben, in dem sie sich daran abarbeitet, was sich seit 1989 grundsätzlich geändert hat und wo man sich damals und seither geirrt hat. Während sich die zweite Lesart aus Äußerungen Franz Münteferings noch ableiten lässt („Wir wissen heute noch nicht, ob im Programm ein Stein auf dem anderen bleibt.“), betont Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter in der Financial Times Deutschland, dass er großen Änderungsbedarf nicht sieht.
Aber hat sich seit 1989 nicht doch eine ganze Menge geändert? Und ist die SPD nicht doch mit einigen Fehlereinschätzungen aus den Debatten der achtziger Jahre hervorgegangen? Beide Fragen erübrigen sich fast, wenn man sich die Mühe macht, das Berliner Programm heute noch einmal zu lesen.
Bereits wenige Stichworte verdeutlichen, wie fundamental sich die Welt seit der Beschlussfassung im Dezember 1989 geändert hat. Dadurch konnte das Berliner Programm naturgemäß vieles nicht oder nur unzureichend berücksichtigen: Das Ende der Systemkonfrontation zwischen West und Ost, neue asymmetrische Bedrohungen, die Privatisierung von Gewalt, Deutschlands neue Verantwortung in der Welt, die Vereinigung Deutschlands und die Herausforderungen des Aufbaus Ost, die dramatische demografische Entwicklung, die fortgeschrittene europäische Integration, die Globalisierung, technische und gesellschaftliche Innovationen, der fortgesetzte Wertewandel, die neue Bedeutung von Familienpolitik, der fundamentale Reformbedarf in der Bildungspolitik auf allen Ebenen und die grundlegende Notwendigkeit der Reform des Föderalismus.
Abschlussdokument einer vergangenen Zeit
Doch das Berliner Programm ist nicht nur von der Geschichte überrollt worden. Es ist ein Abschlussdokument der Diskussionen, die in der westdeutschen Linken in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geführt wurden, und zudem an vielen Stellen in sich widersprüchlich. Es atmet jenen Geist, der bei technischen Innovationen immer zuerst nach dem Risiko und nicht nach den neuen Chancen fragt. Auch die Aussagen zu wirtschaftlichem Wachstum lesen sich heute, in Zeiten, da anhaltende Wachstumsschwäche den Wohlstand und den sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft bedroht, fast schon zynisch – obwohl sie natürlich damals nicht so gemeint waren. Über den Arbeitsmarkt und die Arbeitswelt stellt das Berliner Programm Mutmaßungen an, die der Wirklichkeit heute schlicht nicht entsprechen. Viele politische Forderungen widersprechen der heutigen politischen Praxis der SPD. Da wird nicht nur das Verbot von Leiharbeit gefordert, eine generelle Arbeitszeitverkürzung als Königsweg zur Vollbeschäftigung beschworen; auch Beurteilungsmaßstäbe dafür, unter welchen Bedingungen die Bundeswehr Aufgaben über die Landesverteidigung hinaus wahrnehmen kann, fehlen völlig. Die notwendigen Veränderungen des Sozialstaates werden – vorsichtig gesagt – noch sehr eng gefasst.
Natürlich steht im Berliner Programm auch vieles, was nach wie vor richtig ist – zu Grundwerten und Menschenbild beispielsweise. Auch ist es unbestritten ein Verdienst derjenigen, die das Berliner Programm damals formuliert haben, die Debatten der neuen sozialen Bewegungen der achtziger Jahre in die Programmatik der SPD einfließen zu lassen. Die gilt besonders für die Verankerung der Ökologie in der Sozialdemokratie.
Kultur und Körperpflege
Daneben aber findet sich auch viel Banales. So heißt es: „Sport ist ein wesentlicher Beitrag zu unserer Kultur.“ Johannes Rau soll damals im Parteivorstand darauf hingewiesen haben, dass man dasselbe auch über Körperpflege ausführen könne. Die vielen Trivialitäten im Berliner Programm führen dazu, dass es in der Geschichte mit weitem Abstand das Längste, aber auch das mit der geringsten Ausstrahlung war. Das Berliner Programm erscheint wie ein Dokument, in dem jedes Grüppchen und jede Arbeitsgemeinschaft der SPD einige Spiegelstriche zugeteilt bekommen hat, nicht aber als das Programm einer Partei, die die mühevolle Aufgabe bewältigt hat, sich gemeinsam darauf zu verständigen, was wirklich wichtig ist.
Die SPD hat ein neues Programm bitter nötig. Warum also jetzt diese merkwürdige Verfahrensdebatte? Hinter dieser Diskussion verbirgt sich eine ganz andere. Es geht um die grundlegende Einschätzung, welche Funktion ein Grundsatzprogramm überhaupt haben soll. Während Teile der Parteiführung einzig und allein darauf bedacht sind, dass die Grundsatzdiskussion das Tagesgeschäft nicht gefährdet, kämpfen andere gegen ein neues Programm, weil sie selbst offenbar auf neue Herausforderungen nur die Antworten geben können, die ihnen auf die grundlegenden Fragen der Welt der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eingefallen sind. Während ersteres eine sehr taktische Beziehung zu Grundsätzen offenbart, scheint letzteres vor allem auf biografischen Problemen zu beruhen.
Von Bürokraten und Lordsiegelbewahrern
Sowohl der technokratische Versuch, die Grundsatzprogrammdebatte durch ein bürokratisches Verfahren einzuzwängen, damit sie anderes nicht stört, als auch die theatralische Inszenierung einiger vermeintlicher Lordsiegelbewahrer der sozialdemokratischen Programmschatzkammer erweisen der Partei damit einen Bärendienst. Die Parteiführung, die eigentlich vor allem Ruhe will, wird erleben, dass der Widerspruch zwischen Grundsatzprogrammatik und sozialdemokratischer Tagespolitik der Partei immer wieder heftige Auseinandersetzungen bescheren wird. Sie trägt damit eher zur Desintegration und Sprachlosigkeit der Partei bei.
Fatal erinnert dieser Vorgang an den Revisionismusstreit zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Damals wollte Bernstein die Schere zwischen grundsätzlichem revolutionärem Anspruch und streng marxistischer Weltsicht auf der einen sowie tatsächlicher reformerischer Praxis der SPD auf der anderen Seite durch eine programmatische Revision schließen. Doch gerade dafür wurde er von der Parteilinken erbittert bekämpft. Parteiführung und Parteitag verurteilten die revisionistischen „Umtriebe“ und verankerten eine sozialdemokratische Zwei-Reiche-Lehre, deren Widerspruch zwischen revolutionärer programmatischer Rhetorik und reformerischer politischer Praxis der SPD in den folgenden Jahrzehnten schwer zu schaffen machte. Bis 1959, also über fünf Jahrzehnte, schwelte dieser Streit, bis sich die SPD mit dem Godesberger Programm klar, deutlich und selbstbewusst als linke Volks- und Reformpartei darstellte.
Nun sind heute die Zeiten andere und die handelnden Personen auch. Gabriel ist nicht Bernstein, Thierse nicht Kautsky, Müntefering nicht Bebel und Andrea Nahles weit davon entfernt, Rosa Luxemburg zu sein. Die Parallelen sind dennoch unverkennbar: Diejenigen, die eine Nähe von programmatischem Anspruch und politischer Praxis fordern, werden als Rechtsabweichler diffamiert und als Verräter an der reinen Lehre angegriffen. Die einmal gefassten Grundsatzbeschlüsse werden dogmatisiert und unter Verkennung der Wirklichkeit und ihres steten Wandels ikonisiert. Die Parteiführung nimmt ein Auseinanderfallen von Programm und Rhetorik auf der einen und politischer Praxis auf der anderen Seite in Kauf, weil sie es für opportun hält. Sie verkennt, dass diese Politik mit dazu beiträgt, dass die Partei die Tagespolitik ständig in Frage stellt und – bestenfalls – mit schlechtem Gewissen vertritt.
Es ist nicht auszuschließen, dass die so genannte Parteilinke kurzfristig mit ihrem Versuch durchkommt, sich bei Teilen der Parteibasis moralisch als Verteidiger der sozialdemokratischen Identität in ein hübsches Licht zu rücken. Sie wird damit aber langfristig scheitern. Wer versucht, eine sozialdemokratische Identität auf falschen und unzeitgemäßen Annahmen aufzubauen, anstatt aus den Grundwerten der Partei heraus Antworten auf die Herausforderungen der heutigen Zeit zu finden, ist auf dem Holzweg.
Revisionisten aller Länder, vereinigt Euch!
Doch es gibt Alternativen. Eine Programmdebatte kann, wenn sie gut läuft, die kollektive Wahrnehmung der Partei für grundlegende Veränderungen schärfen, ein Bewusstsein für neue Herausforderungen verankern, die Partei durch ein neues programmatisches Fundament integrieren und damit Orientierung in die Gesellschaft geben. Es geht dabei nicht darum, Grundsätze an die Regierungspraxis anzupassen. Im Gegenteil: Es gilt, der Regierungspolitik durch ein zeitgemäßes sozialdemokratisches Leitbild eine klare Richtung, ein notwendiges Wertefundament zu schaffen. Es geht, wenn man so will, um eine Vision – nicht bloß um das Buch zum Film „Agenda 2010“.
Die deutsche Sozialdemokratie war immer stark, wenn sie gut organisiert und programmatisch auf der Höhe der Zeit war. Programmpartei zu sein heißt aber nicht, ein überholtes Programm in eine museale Glasvitrine zu stellen, um sich das Ausstellungsstück anlässlich von Parteijubiläen hin und wieder einmal anzuschauen. Wer eine starke SPD will, die ihrer gesellschaftlichen Aufgabe als sozialer Emanzipationsbewegung unseres Landes gerecht wird, muss heute für ein neues Programm kämpfen. Jetzt ist Überzeugungsarbeit gefragt. Also: Revisionisten aller Landesverbände und Bezirke, vereinigt Euch!