„Ohne Wirtschaft ist alles nichts“ in: Berliner Republik (2003), Heft 1

Wie groß erst wäre der Sieg der SPD ausgefallen, wenn man ihr auch noch ökonomische Kompetenz zugetraut hätte! Nur wenn sie Sicherheit durch Wandel schaffen, werden Sozialdemokraten auch in Zukunft erfolgreich sein, meinen HUBERTUS HEIL UND CARSTEN STENDER

Vergesst die Sache mit der Wirtschaftspolitik“, schreibt Hans-Peter Bartels in seinem Essay in dieser Ausgabe der Berliner Republik. Er vertritt die These, das Land stehe vor einem ideologischen Epochenwechsel. Das Primat der Ökonomie sei gebrochen, Sozialdemokraten könnten nun endlich „wieder Politik machen“. Bartels′ Kernthese lautet, die Bundestagswahl 2002 habe gezeigt, dass die SPD auch ohne Kompetenzvorsprung in Sachen Wirtschaft Wahlen gewinnen könne. Die regierungsamtliche Rücksichtnahme auf Kapitalinteressen zahle sich für die Sozialdemokraten nicht aus. Wir dagegen meinen: Deutschland braucht eine sozialdemokratische Politik für Wachstum und Beschäftigung. Diese Politik darf sich nicht aufs Verteilen beschränken, sondern muss im Zusammenspiel mit den wirtschaftlichen Akteuren einen Beitrag dafür leisten, dass ein dauerhafter Wachstumspfad beschritten werden kann, ohne den mehr Beschäftigung in Deutschland nicht entstehen wird.
Der 22. September 2002 bescherte der SPD ein – bei Lichte besehen – verlustreiches Wahlergebnis, das zusammen mit dem Koalitionspartner eine Mehrheit von ganzen vier Sitze oberhalb der Kanzlermehrheit ergab. Dies wird man schwerlich als grandiosen rot-grünen Sieg werten können. Die Wahrheit ist: Der Wirtschaftswahlkampf der Union nach dem reißerischen Motto „Deutschland: Schlusslicht in Europa“ wäre um ein Haar aufgegangen. Er hat viele Wählerinnen und Wähler, die 1998 SPD gewählt hatten, verunsichert und in die Arme von Edmund Stoiber getrieben. Wie schon im vorangegangenen Bundestagswahlkampf eignete sich das Thema Arbeitslosigkeit auch für die Opposition des Jahres 2002 bestens, um die Regierungsparteien vor sich her zu treiben. Gerhard Schröder hat die Bundestagswahl gewonnen, obwohl der Union eine höhere Wirtschaftskompetenz zugetraut wurde – nicht weil dies so war. Über diesen Umstand sollten sich Sozialdemokraten nicht mit schönen Formulierungen hinweg täuschen.

Als Hochwasser und Irak noch halfen

Hans-Peter Bartels irrt sich also, wenn er den rot-grünen Wahlsieg als überragenden Erfolg des Politischen gegenüber einer ökonomistischen Weltanschauung betrachtet, ihn gar für das Ergebnis (oder den Ausgangspunkt?) eines ideologischen Epochenwechsels hält. Rot-Grün und Schröder als Person waren näher am Lebensgefühl der Deutschen als die Union mit ihrem abschreckenden Kandidaten. Letztlich gaben darüber hinaus die Hochwasserkatastrophe und die Haltung Schröders im Irak-Konflikt den Ausschlag. Die SPD-geführte Bundesregierung konnte auf diese Weise nochmals eine knappe Mehrheit erringen. Man stelle sich vor, wie glanzvoll dieser Sieg ausgefallen wäre, wenn dieser Regierung zudem eine überragende wirtschaftspolitische Kompetenz zugemessen worden wäre. 1998 bestand Schröders wesentliche Wahlkampfleistung darin, die SPD gegen den Vorwurf mangelnder Wirtschaftskompetenz zu immunisieren. In den Wahlkämpfen zuvor war es der Union stets erfolgreich gelungen, die SPD als wenig wirtschaftskompetent und somit als Gefahr für den Wohlstand darzustellen.
1998 erschien die SPD über 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler als politische Kraft, die nicht nur für die gerechtere Verteilung des Erwirtschafteten sondern auch für die Schaffung von neuem Wachstum stand. Zusammen hieß das damals „Innovation und Gerechtigkeit“. Auch im Jahr 2002 versuchte die SPD, auf diese Weise zu reüssieren, diesmal unter dem Motto „Erneuerung und Zusammenhalt“. Der sozialdemokratische Erfolg bei beiden Wahlen stand also auf zwei Beinen. Die Reihenfolge der Begriffe war dabei jeweils kein Zufall. Sowohl 1998 wie 2002 präsentierten sich die Sozialdemokraten dem deutschen Volk als moderne Wachstumspartei, die für sozialen Ausgleich sorgt.
Hans-Peter Bartels stellt nun in seinem Essay grundsätzlich in Frage, dass die Politik in Deutschland einen Beitrag zur Schaffung von beschäftigungswirksamem Wachstum leisten kann. Damit wird das sozialdemokratische Wahlkampfversprechen von 1998 und 2002, nicht nur Verteilungspartei, sondern auch Wachstumspartei zu sein, in Zweifel gezogen. Hans-Peter Bartels′ Thesen verdienen nicht nur deshalb nähere Betrachtung, weil sie eine Reihe von guten Gedanken, schlauen Formulierungen und falschen Prämissen enthalten. Sie müssen auch deshalb beantwortet werden, weil sie – zumindest in Teilen der veröffentlichten Meinung – erhebliche Beachtung gefunden haben.

Ergebnisse sind wichtiger als Rechtsformen

Hans-Peter Bartels hat vollkommen Recht in seiner ätzenden Kritik am dümmlichen neoliberalen Geplapper, das in den Zeiten der hysterischen New Economy – übrigens: ähnlich dem vulgärmarxistischen Determinismus – das Absterben des Staates prognostizierte. Auch seine Kritik an der Geldvernichtung und am Bereicherungszynismus dieser wirtschaftsgeschichtlichen Episode ist richtig und notwendig. Der starke und handlungsfähige Staat ist in der Tat die entscheidende Grundlage dafür, dass Deutschland seinen in der Verfassung formulierten programmatischen Auftrag als sozialer Rechtsstaat erfüllen kann. Der starke und handlungsfähige Staat ist auch eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg unserer Volkswirtschaft. Nur er kann in weltwirtschaftlich schwieriger Zeit verlässliche Rahmenbedingungen schaffen. Es ist ebenfalls richtig, dass sich ein Staat in ausreichendem Maße finanzieren muss, damit er funktionieren kann.
Doch Hans-Peter Bartels zieht in seiner Argumentation eine Reihe von Kurzschlüssen und blendet vieles aus: So richtig sein Grundtenor ist, nicht jede Veränderung sei per se schon Fortschritt, so falsch ist es, den Status quo staatlicher Organisation grundsätzlich für in Ordnung zu halten. Das Wuchern der Bürokratie in Deutschland ist eben nicht Ausdruck hoher staatlicher Steuerungskunst in einer komplexer werdenden Gesellschaft, sondern ärgerlich und hinderlich. Hans-Peter Bartels polemisiert gegen jede Form von Verwaltungsreform, die sich an ökonomischen Erfahrungen ausrichtet. Gewiss, Staat und Politik haben ihre je eigene Sphäre. Und nicht jeder öffentliche Bereich ist ökonomisierbar. Was spricht aber dagegen, öffentliche Verwaltung effizienter zu organisieren? Ist es ein Verstoß gegen sozialdemokratische Grundwerte, ein Theater oder ein Krankenhaus als GmbH zu führen? Nicht Rechtsformen, sondern Ergebnisse geben Zeugnis über den Erfolg von Politik. Welche Organisationsform am besten geeignet ist, das angepeilte Ziel am besten zu erreichen, muss nach Maßgabe der eigenen Wert- und Zielvorstellungen und der vorhandenen Ressourcen von Fall zu Fall entschieden werden. Dabei hilft weder eine brachiale Privatisierungsideologie noch das Schönreden der jeweils ex ante vorhandenen staatlichen Organisationsform. Muss es erst so weit kommen wie bei der Bundesanstalt für Arbeit, wo man sich jahrelang selbst belog – bis Ineffizienz und Regelungswut so offensichtliche Ausmaße angenommen hatten, dass alles Leugnen zwecklos wurde?

Was ist so toll an der Regelungswut?

Es kommt darauf an, jede Regelung auf einen rationalen Kern und ihren Nutzen hin zu überprüfen. Die reine Existenz von Regelungen darf keine Legitimation für deren dauerhaften Fortbestand sein. Angesichts der Regelungsdichte in Deutschland wären doch die folgenden – nicht ganz neuen – Gedanken überlegenswert: Warum werden nicht für jede neue Regel in unserem Land zwei bestehende gestrichen? Warum werden nicht Verordnungen grundsätzlich zeitlich befristet, damit ihr Sinn in angemessenem Abstand nochmals geprüft werden kann? Den Abbau von Bürokratie und Regulierungswut allein den Neoliberalen zu überlassen oder als ökonomistisch zu diffamieren kann sich die Linke in Deutschland ebenso wenig leisten wie unser Gemeinwesen insgesamt.
Doch Hans-Peter Bartels greift auch an anderen Stellen erkennbar zu kurz: Ein völliges Missverständnis ist es, aus der Begrenztheit nationalstaatlichen Einflusses auf weltwirtschaftliche Konjukturverläufe abzuleiten, die Politik in Deutschland habe keinerlei Verantwortung dafür, dass in unserem Land wirtschaftliches Wachstum generiert und beschäftigungswirksam werden könne. Sicherlich, es gibt andere Akteure neben dem Staat – Unternehmen, Gewerkschaften, Notenbanken -, die durch ihr Handeln den makroökonomischen Rahmen bestimmen. Auch ist unsere Volkswirtschaft in der globalisierten Welt hochgradig abhängig von außenwirtschaftlichen Entwicklungen. Aber der Nationalstaat hat noch immer die Möglichkeit, mit seiner Haushalts- und Steuerpolitik Wachstumsimpulse zu geben, die natürlich umso aussichtsreicher sind, je besser sie mit dem Handeln der anderen Akteure und dem weltwirtschaftlichen Umfeld konzertiert werden. Selbst wer das bezweifelt, muss doch einräumen, dass die Politik in unserem Land einen entscheidenden Anteil an der außerordentlich hohen Beschäftigungsschwelle hat, unterhalb derer Wirtschaftswachstum keine neuen Arbeitsplätze hervorbringt. Hans-Peter Bartels verkennt grundsätzlich auch, dass staatliches Handeln schon deshalb einen Beitrag für das Entstehen wirtschaftlicher Dynamik leisten muss, weil allein die wirtschaftliche Kraft unseres Landes der Garant von Wohlstand und staatlicher Handlungsfähigkeit ist.

Jetzt machen wir, wie wir beschlossen haben

Jede Zeit hat ihre spezifischen Fragen und Antworten. Die Fragen unserer Zeit lauten: Wie sichert man wirtschaftlichen Wohlstand in einer Welt der Globalisierung und des rapiden technologischen Wandels? Wie erreicht man soziale Stabilität und soziale Sicherheit, wenn sich Gesellschaften, Kulturen und Lebensgewohnheiten dramatisch ändern? Wie schafft man unter den Bedingungen des demografischen Wandels soziale Sicherheit, ohne die aktive Generation zu überfordern? Weder die Rezepte des Neoliberalismus der achtziger und neunziger Jahre noch die rein verteilungspolitischen Rezepte, die in früheren Jahren erfolgreich gewesen sein mögen, haben sich als effektive Antworten auf diese Probleme erwiesen.

Stattdessen erfordern die heutigen Lebens- und Arbeitsbedingungen eine wachstumsorientierte Mitte-Links-Politik. Das ist eine wertorientierte, pragmatische Politik des Ausgleichs zwischen den Imperativen der wirtschaftlichen Dynamik einerseits und jenen der sozialen Gerechtigkeit andererseits. Im Gegensatz zu Hans-Peter Bartels′ Abgesang auf die sozialdemokratische Wirtschaftspolitik formuliert der rot-grüne Koalitionsvertrag dazu klar und korrekt: „Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist die Belebung des Wirtschaftswachstums von entscheidender Bedeutung. … Unser Land braucht eine Offensive für Wachstum und Beschäftigung. Mehr Wohlstand für alle ist nur durch nachhaltiges Wirtschaftswachstum erreichbar. … Kern dieser Politik ist, die Investitionskraft und Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft durch den Abbau von Wachstumshemmnissen nachhaltig zu stärken, um Arbeitsplätze zu schaffen und Beschäftigung zu sichern. Ziel ist, Unternehmensgründungen zu forcieren, überflüssige Bürokratie zu beseitigen und unternehmensfreundliche Investitionsbedingungen zu schaffen.“ – „Jetzt machen wir, wie wir beschlossen haben“, möchte man da nur noch in Franz Münteferings feinstem Sauerländisch hinzufügen.

Die SPD muss höllisch aufpassen

Die schwarz-gelbe Ära ging zu Ende, als es der Opposition und den Medien 1998 gelungen war, der Regierung die Etiketten „Reformstau“, „Stillstand“ und „Blockade“ anzuheften. Spricht man heute über die aktuelle wirtschaftliche Lage Deutschlands, so hört man Begriffe wie „Katerstimmung“, „Bleierne Zeit“ oder „Lähmung“. Natürlich: Gegenwärtig versucht die Opposition, ihre Reihen trotz der Wahlniederlage dadurch geschlossen zu halten, dass sie in einer aggressiven Kampagne das Wahlergebnis als Folge eines groß angelegten „Betrugs“ hinstellt. In Rechnung gestellt sei auch, dass einige Leitartikler derzeit in offenbar irrationaler Weltuntergangsstimmung Zerrbilder der Lage unseres Landes zeichnen. Nein, Deutschland ist nicht auf dem Weg zum Drittweltland. Und es ist natürlich ebenso geschichtsvergessen dämlich wie abgrundtief verantwortungslos, Weimarer Verhältnisse herbei schreiben zu wollen, oder (wie in der FAZ geschehen) die Wirkung rot-grüner Politik mit jener von Bombenangriffen zu vergleichen. Zwar wird sich diese Hysterie wieder legen. Dennoch: Die SPD muss höllisch aufpassen, nicht dauerhaft das Image des Reformverweigerers angeheftet zu bekommen. Ohne jenen Erneuerungsanspruch, der sich in Willy Brandts Motto „Wer morgen sicher leben will, muss heute für Reformen kämpfen“ zusammenfassen lässt, wird die SPD nicht mehrheitsfähig bleiben, sondern dauerhaft unter die 30-Prozent-Marke gedrückt.

Kompetenzen pflastern den deutschen Weg

Damit sich der Eindruck der Reformverweigerung nicht verfestigt, bedarf es einer Politik des fairen Interessenausgleichs zwischen Jung und Alt, zwischen Arbeitsplatzinhabern und Arbeitslosen, zwischen Frauen und Männern. Dies alles fällt umso leichter, je größer der Kuchen ist, den unsere Volkswirtschaft backt. Dabei wäre es von Nutzen, wenn sich dieses Land seiner früheren wirtschaftlichen Kernkompetenzen erinnerte, die es einmal als „Modell Deutschland“ erscheinen ließ.
Die erste deutsche Kernkompetenz ist das hohe Qualifikationsniveau der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Dieser Standortvorteil muss durch Bildungsreformen wieder erarbeitet werden, die sowohl einen breiten Zugang zu Bildungsangeboten eröffnen, als auch die Förderung von Spitzenleistungen ermöglichen. Natürlich ist Bildung für Sozialdemokraten mehr als nur Grundlage für den Erfolg unserer Volkswirtschaft. Bildung ist Voraussetzung für individuelle Entfaltung und Chancen. Wissensvermittlung muss auch im Zusammenhang mit der Vermittlung sozialer Fähigkeiten und Werteerziehung erfolgen. Für den Erfolg unserer Volkswirtschaft indes ist ein erstklassiges Bildungs- und Ausbildungssystem in jedem Fall unerlässlich.
Die zweite deutsche Kernkompetenz war in fast allen Bereichen – und ist auch heute noch auf vielen Sektoren – die Innovationskraft von Wissenschaft und Forschung. Es kam und kommt darauf an, neue Produkte und Verfahren zu entwickeln, die zu mehr Beschäftigung führen. Auch hier ist der Staat nicht der einzige Akteur. Er setzt aber in nicht unbeträchtlichem Maß den Rahmen und muss in seiner Forschungs- und Technologiepolitik für die entscheidenden Impulse sorgen. Der wesentliche Missstand der heutigen Wirtschafts- und Technologieförderung besteht in ihrer Unübersichtlichkeit und ihrer Unterfinanzierung.
Die dritte deutsche Kernkompetenz war und ist eine gut ausgebaute Infrastruktur, also ein leistungsfähiger und investierender Staat, der sich allerdings künftig bei der Bewältigung seiner Aufgaben der Public-Private-Partnership bedienen sollte – angesichts der Lage der öffentlichen Finanzen wohl auch bedienen muss. Die Qualität der Staatsausgaben sollte durch eine Erhöhung der Investitionen weiter gesteigert werden.
Die vierte deutsche Kernkompetenz ist der soziale Frieden in diesem Land. Die soziale Stabilität – seit dem Krieg gab es vergleichsweise wenige Streiks und keinerlei soziale Unruhen – ist nicht nur wichtig für den Fortbestand unseres parlamentarischen Systems. Solche Stabilität ist auch ein Garant für Investitionssicherheit. Um den sozialen Frieden zu erhalten ist – vor allem wegen der derzeitig übermäßigen Belastung des Faktors Arbeit und angesichts der demografischen Entwicklung – der weitere Umbau der sozialen Sicherungssysteme unerlässlich. Im Gegensatz zu den Henkels und Wester- welles dieses Landes werden Sozialdemokraten immer darauf achten, dass die großen Lebensrisiken für den Einzelnen durch die Solidarität der Gemeinschaft abgesichert werden.

Was Sozialdemokraten alles leisten müssen

Bei der Alterssicherung hat die SPD-geführte Bundesregierung den entscheidenden Reformschritt getan, neben der tragenden umlagefinanzierten gesetzlichen Rentenversicherung mit dem Aufbau einer kapitalgedeckten Säule zu beginnen. Gleichwohl muss auch in diesem sozialen Sicherungssystem in den nächsten Jahren nachgesteuert werden. In der gesetzlichen Krankenversicherung hingegen stehen die entscheidenden Reformschritte noch aus. Hier hat sich die SPD viel vorgenommen: Prävention soll als eigenständige Säule des Gesundheitswesens aufgebaut werden; die Qualität der Leistungen soll verbessert werden; Wirtschaftlichkeitsreserven im System sind durch mehr Wettbewerb der Leistungserbringer und mehr Kostentransparenz zu erschließen; und der Leistungskatalog der Krankenversicherung muss überprüft werden. Alle diese Reformen hinsichtlich der Qualität und der Ausgabenseite unseres Gesundheitswesens sind so schwer durchsetzbar wie notwendig und richtig.

Und doch müssen Sozialdemokraten noch mehr leisten: Reformen sind auch auf der Einnahmeseite des Gesundheitswesens notwendig. Hier zwingen die demografische Entwicklung und die Finanzierung des medizinisch-technischen Fortschritts (der allerdings auf der Ausgabenseite auch Kosten sparen hilft) zu Veränderungen. Auch bei den Reformen am Arbeitsmarkt steht das Land vor weiteren Strukturreformen. Wer glaubt, das Hartz-Konzept sei der Endpunkt sozialdemokratischer Reformpolitik auf diesem Gebiet, wird seinen Irrtum bald erkennen müssen – und zwar noch in der laufenden Legislaturperiode.

Dem Fortschritt eine Richtung geben

Das ist der Widerspruch unserer Zeit: Das Volk weiß, dass es struktureller Reformen bedarf, fürchtet sich aber zugleich vor ihnen. In dieser Situation muss die SPD Mut machen. Sie darf sich nicht darauf beschränken, mitzuteilen was sie tut, sie muss vor allem deutlich machen, wofür und mit welcher Zielperspektive sie es macht. Sie sollte alles unterlassen, was die Akzeptanz der notwendigen politischen und institutionellen Reformen mindert. Es ist nötig, die Sorge der Menschen vor der Unkalkulierbarkeit einer sich beschleunigenden Zukunft zu artikulieren. Es ist aber schädlich, diese Sorge zu instrumentalisieren, um das eigene Profil als Anwalt des Status Quo zu schärfen. Es bleibt dabei: Nicht um Sicherheit vor dem Wandel geht es, sondern um neue Sicherheit durch Wandel. Für diese Aufgabe, nämlich die Verwirklichung von Reformen durch eine kommunikative Politik liefert Hans-Peter Bartels wiederum wertvolle Anregungen: Verbindende Botschaften sind erfolgreicher als krampfhafte Versuche, jeder noch so kleinen Zielgruppe vorzurechnen, wie sehr sie von dieser oder jener politischen Maßnahme profitiert. Die Ziele sozialdemokratischer Reformpolitik prägnant zu vermitteln – darin kann der entscheidende Ausweg aus den momentanen Schwierigkeiten der SPD liegen. Denn die Akzeptanz sozialdemokratischer Reformpolitik wächst, wenn es der SPD gelingt, in einer unübersichtlichen Welt Orientierung zu geben. Kurzum, die SPD muss die Sinnfrage ihrer Politik verständlich beantworten. Sie muss dem Fortschritt eine Richtung geben.

 

von Hubertus Heil und Carsten Stender