Rede von Hubertus Heil zum Bürokratieentlastungsgesetz

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Ich erteile dem Kollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion das Wort.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es gibt diesen schönen Satz: Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es nicht notwendig, ein Gesetz zu machen.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Montesquieu!)

– Herr Kollege Grosse-Brömer ist belesen und weiß, dass er von Montesquieu ist.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Nicht bei jedem Thema!)

Genau da liegt das Problem. Dieser schöne, einfache Satz ist Gegenstand von Streitigkeiten, wenn es darum geht, zu entscheiden, was notwendig ist. Es ist in einem politischen Wettstreit aber auch vernünftig, darüber zu debattieren, welche Gesetze notwendig sind: Ist es notwendig, ein Pkw-Maut-Gesetz zu machen, oder nicht? Ist es notwendig, die Vorratsdatenspeicherung durchzuführen, oder nicht? Ist es notwendig, einen Mindestlohn einzuführen, oder nicht? Das wird im demokratischen Wettstreit immer auch Gegenstand von Diskussionen sein.
Wir müssen uns nicht die Frage stellen, ob es notwendig ist, dass der Gesetzgeber Regeln setzen darf, sondern wir müssen die Frage stellen, ob sie verhältnismäßig sind. Ist es überbordende Bürokratie? Drückt diese Bürokratie die Menschen an die Wand? Nimmt sie den Unternehmerinnen und Unternehmern Spielräume? Oder gibt es auch Regelungen, die vernünftig sind?
Wenn man Befürworter eines starken und handlungsfähigen Rechtsstaates ist – ich bin das –, dann kommt man nicht umhin, festzustellen, dass sich der Rechtsstaat selbst ad absurdum führen würde, wenn er einen Wust an Regeln aufbaut, den keiner mehr überblicken kann, an dem die Menschen verzweifeln und der in der Realität von den Menschen nicht mehr ernst genommen wird. Sie sagen: „Das sind so viele Regeln, dass ich das gar nicht mehr nachvollziehen kann“, und fragen sich, ob sie das überhaupt noch ernst nehmen sollen. Für unser demokratisches Gemeinwesen ist der Abbau unnötiger Bürokratie ein notwendiger Schritt, um die Handlungsfähigkeit und die Akzeptanz demokratischer Politik in unserem Rechtsstaat zu stärken.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das gilt in besonderem Maße in Bezug auf die Wirtschaft in unserem Land. Wer mit Unternehmerinnen und Unternehmern redet – mit kleinen und mittleren zumal – und fragt, wo der Schuh drückt, der erfährt, dass sich die Prioritäten in vielen Bereichen binnen Jahresfrist oder auch innerhalb von Jahrzehnten ändern. Topthemen sind heute die Fachkräftesicherung und die Frage, wie es mit den Energiepreisen und der Energiesicherheit weitergeht.
Ein Dauerbrenner seit vielen Jahren und Jahrzehnten ist aber das Klagen über bürokratische Belastungen. Die Relation – mein Vorredner von den Grünen hat sie zu Recht genannt – dürfen wir an dieser Stelle nicht verschweigen. Ungefähr 70 Prozent der Bürokratie, mit der kleine und mittlere Unternehmen in diesem Land zu kämpfen haben, ist Steuerbürokratie. Darauf komme ich gleich noch einmal. Kollege Fuchs, diese Relation müssen wir im Blick behalten.
Wir müssen über alles und auch über alle Bereiche reden. Auch die Sozialdemokraten stellen sich nicht schützend vor unnötige Bürokratie. Wir müssen darüber reden, was sozusagen der Schwerpunkt dessen ist, was Unternehmen – vor allen Dingen auch Existenzgründer und junge Unternehmer – belastet.
Deshalb ist dieser Gesetzentwurf heute ein Anfang und ein wesentlicher Schritt in dieser Legislaturperiode. Er reiht sich ein bisschen – Herr Kollege Braun und Frau Kollegin Gleicke haben darauf hingewiesen – in eine Tradition der letzten Großen Koalition ein. Damals ist der Normenkontrollrat geschaffen worden, der den Gesetzgeber natürlich nicht ersetzen kann, der aber die Regierung und vor allem das Parlament bei der Frage beraten kann, ob Gesetze in Bezug auf den Erfüllungsaufwand verhältnismäßig ausgestaltet sind.
Bei aller Skepsis, die es damals bei der Etablierung dieses Normenkontrollrates gegeben haben mag, sind wir inzwischen alle miteinander froh, dass es ihn gibt. Er sagt manchmal auch Dinge, die einem nicht schmecken, weil man politisch anderer Meinung ist. Aber es ist vernünftig, sich das anzuhören und sich als Parlamentarier bei der Formulierung von Gesetzentwürfen ständig zu fragen, ob es wirklich notwendig ist, das so auszugestalten, oder ob es an der einen oder anderen Stelle nicht eine Nummer kleiner geht.
Die Mittelstandsgesetze und der Normenkontrollrat als Ergebnis der letzten Großen Koalition sind auch verantwortlich dafür, dass wir jetzt diese Diskussion führen. Viele Vorschläge des Normenkontrollrates hat Bundesminister Sigmar Gabriel aufgenommen, und es lässt sich sehen, was wir an dieser Stelle schaffen.
Noch einmal: Ich behaupte nicht, dass das das Ende der Fahnenstange ist, aber allein durch den Abbau von Statistik-, Buchführungs- und Aufzeichnungspflichten können wir die Unternehmen in diesem Land nach Bestätigung des Normenkontrollrates jährlich um 744 Millionen Euro entlasten. Das ist ein Stück Investitions-anreiz in diesem Land – wenn Sie so wollen, ein Konjunkturstimulus –, ohne dass wir in die Haushaltskasse greifen müssen. Das ist ein vernünftiger Schritt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir entlasten vor allen Dingen Existenzgründer und junge Unternehmen von statistischen Meldepflichten. Ich gebe zu: Auch in diesem Bereich kann und muss man mehr machen. Wir haben beispielsweise über die Rahmenbedingungen für Existenzgründungen und für das Wachstum junger Unternehmen insgesamt zu reden, Stichwort „Wagniskapitalgesetz“. Ich finde, auch in diesem Bereich ist das Bundesfinanzministerium mit in der Verantwortung, dass wir vorankommen. Aber immerhin: Der Abbau von Statistikpflichten hilft den Unternehmerinnen und Unternehmern, vor allem den jungen Leuten, die sich in die Selbstständigkeit aufgemacht haben, ganz konkret.
Des Weiteren ist die bereits angesprochene Bürokratiebremse nach dem Prinzip „One in, one out“ vorgesehen. Herr Kollege Braun, ich nehme an, dass man diesen Anglizismus deshalb verwendet, weil die Regelung aus Kanada stammt. Ich gebe zu: Wir müssen damit Erfahrungen sammeln. Denn ich glaube, dass in vielen Ministerien erst durch die Praxis deutlich wird, was das tatsächlich bedeutet. Es ist sehr anspruchsvoll, in jedem Ressort darauf zu achten, dass man für jedes neue Gesetz den Erfüllungsaufwand ermittelt und ihn bei bestehenden Gesetzen entsprechend reduziert, und zwar möglichst im selben Politikfeld. Das ist eine Selbstverpflichtung der Regierung – das steht außer Frage –; es hat für den Gesetzgeber keinen Verfassungsrang. Aber es wird hochspannend, zu sehen, was demnächst daraus an Gesetzesvorlagen der Regierung erwächst. Wir werden das jedenfalls im Blick behalten.
Ich finde, das ist ein sehr spannender Ansatz, der nach vorne weist. Manche wünschen sich eine rückwirkende Geltung. Das ist bei Dingen, die man nicht mag, politisch verständlich. Ob die Pkw-Maut dauerhaft Bestand hat, entscheidet wahrscheinlich nicht die „One in, one out“-Regelung, die, wie gesagt, nicht rückwirkend wirkt. Die Pkw-Maut ist jetzt Gegenstand der Diskussion auf europäischer Ebene. Das Ergebnis bleibt abzuwarten.
Wir haben mit dem Prinzip etwas etabliert, was sich sehen lassen kann. Ich bin sehr gespannt, wie es in der Praxis funktioniert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf müssen wir uns auch mit der Frage der geringwertigen Wirtschaftsgüter befassen. Ich stelle in dieser Debatte fest, dass bis auf die Linken, die dazu offensichtlich keine Meinung haben, alle Fraktionen übereinstimmend der Meinung sind, dass in diesem Bereich eine Anpassung notwendig ist. So habe ich die Einlassungen des Kollegen Fuchs verstanden, und die Kollegin Andreae hat es ebenso ausgeführt wie die Kollegin Wicklein aus meiner Fraktion, der ich übrigens sehr dankbar dafür bin, dass sie sich seit vielen Jahren intensiv um das Thema kümmert. Sie alle haben völlig recht. 1964 war das Referenzjahr für die Möglichkeit, geringwertige Wirtschaftsgüter mit damals 800 D-Mark – das entspricht etwa 400 Euro – abzusetzen. Eine Änderung in diesem Bereich könnte tatsächlich auf einen Schlag einen Stimulus für Investitionen geben. Das ist nämlich zurzeit unser Hauptthema. Wir setzen ganze Kommissionen ein, die sich mit der Frage befassen, wie wir die öffentlichen, aber auch vor allen Dingen die privatwirtschaftlichen Investitionen in Deutschland unterstützen. Wir können und müssen hier etwas tun.
Es ist richtig, dass es sich gesamtwirtschaftlich rechnet, wenn wir an dieser Stelle ein bisschen lockerlassen. Deshalb ist meine Bitte in der heutigen ersten Lesung, dass wir uns im Gesetzgebungsverfahren diesen konkreten Punkt vornehmen und sagen: Wir können und müssen an dieser Stelle ein bisschen lockerlassen. – Die SPD-Fraktion reicht auch der Unionsfraktion dazu die Hand. Wir werden das auch im Rahmen der Anhörung miteinander zu diskutieren haben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Ich hatte am Anfang gesagt: Wenn ein Gesetz nicht notwendig ist, ist ein Gesetz nicht notwendig. Wir werden weiter darüber streiten, welche Gesetze notwendig sind. Es geht um Freiraum für Bürgerinnen und Bürger und für die Wirtschaft in diesem Land. Deshalb ist es ein ehrenwertes Anliegen, und ich finde, dass wir heute einen großen Schritt nach vorne gehen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)