Rede von Hubertus Heil zur Pisa-Studie 2012

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Auch Ihnen, Frau Kollegin Tank, herzliche Glückwünsche zu Ihrer ersten Rede und alle guten Wünsche für die weitere Arbeit hier im Hause.

(Beifall)

Als Nächstem erteile ich das Wort dem Kollegen Hubertus Heil für die SPD-Fraktion. Er hat, glaube ich, schon einmal geredet.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hubertus Heil (Peine) (SPD):
Durchaus, Herr Präsident. – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der PISA-Schock aus dem Jahr 2000 war – das ist heute verschiedentlich deutlich gemacht worden – offensichtlich ein heilsamer Schock. Denn es hat sich in den letzten zwölf Jahren viel bewegt, wenn auch – das muss man sagen – Menschen wie ich, die ein bisschen ungeduldiger sind, sich manchmal darüber wundern, wie lange vieles braucht. Aber ein Bildungssystem umzusteuern, das ausweislich der Befunde der PISA-Studie im Jahr 2000 offensichtlich in einer schweren Krise war, dauert. Dafür ist vielen zu danken: Erzieherinnen und Erziehern – das ist passiert – wie auch Lehrerinnen und Lehrern.
Ich möchte aber ausdrücklich auch den Kommunen und den Bundesländern danken, die sich an die Arbeit gemacht haben. Natürlich sind die Erfolge der letzten zwölf Jahre nicht vom Himmel gefallen. Auch der Bund hat sich beteiligt, zum Beispiel – weil das bisher noch keine Erwähnung fand, Frau Wanka – mit einem 4 Milliarden Euro schweren Ganztagsschulprogramm. Dazu sage ich den Kollegen vom Bündnis 90/Die Grünen: Das waren wir gemeinsam. Darüber könnt ihr euch durchaus freuen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich glaube aber, der wichtigste Befund ist – das ist in einigen Reden heute deutlich geworden –, dass die PISA-Debatte in den letzten zwölf Jahren auch zu einer Entideologisierung in der bildungspolitischen Debatte geführt hat. Auch das war heute spürbar.
Ich erinnere mich an westdeutsche Debatten in den 70er- und 80er-Jahren über Bildungspolitik in Deutschland, Frau Wanka. Um es etwas zu karikieren: Konservative haben damals immer gesagt: „Leistung und Elite sind wichtig“, Sozialdemokraten haben gesagt: „Chancengleichheit ist wichtig.“ PISA hat uns gelehrt, dass Chancengleichheit und Leistungsstärke keine Gegensätze sind, sondern wechselseitige Bedingung.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir brauchen einen breiten Zugang zu Bildungschancen in diesem Land, damit Spitzenleistungen möglich werden, ähnlich wie im Sport: ohne Breitensport kein Spitzensport.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Oder wie bei Pyramiden: ohne Breite keine Spitze. Das ist das Wichtigste, meine Damen und Herren.
Die Konsequenzen daraus sind, dass sich in Deutschland herumgesprochen hat, dass die frühe und individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen, verbunden mit längerem gemeinsamen Lernen, der Schlüssel dazu ist, die Bildungschancen in diesem Land zu verbessern und auch die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems nach vorne zu bringen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Deshalb, Frau Wanka, habe ich mich zunächst einmal über Ihre Rede gefreut. Wir wünschen Ihnen in diesem Amt in der gemeinsamen Zusammenarbeit alles erdenklich Gute, auch im Interesse der Bildungsrepublik Deutschland, die wir erst werden müssen. Aber ich füge hinzu, dass wir uns vor allen Dingen darüber freuen, dass wir mit Ihnen und Ihrer Kompetenz in Verbindung mit anderen Kolleginnen im Bundeskabinett, zum Beispiel mit der Kollegin Manuela Schwesig, die im Wesentlichen auch Verantwortung für den Bereich der frühkindlichen Förderung trägt, mit der Kollegin Aydan Özoğuz, die als Integrationsbeauftragte der Bundesregierung ihren Beitrag leisten wird, und mit Andrea Nahles als Bundesarbeits- und -sozialministerin, die für den Bereich Weiterbildung und Qualifizierung auch eine wichtige Verantwortung trägt, ein starkes Team von Frauen in dieser Großen Koalition haben, die wir als Regierungsfraktion unterstützen wollen.

(Beifall bei der SPD – Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, die SPD ist auch in der Koalition?)

Wir müssen die Bildungschancen im gesamten Lebensverlauf nutzen, von der frühen Förderung über den schulischen Bereich, für den die Länder Hauptverantwortung tragen – diese werden wir als Bund unterstützen –, und die berufliche Bildung bis hin zu Hochschulbildung und Weiterbildung. Wir müssen den Geist von PISA begreifen und lebensbegleitendes Lernen im Blick haben.
Um es konkret zu machen: Wir haben uns vorgenommen – wie Sie wissen, hätten wir uns mehr vorstellen können, was die Ausstattung betrifft –, mehr in Bildung zu investieren. Wir werden darüber zu diskutieren haben, wie wir den Koalitionsvertrag umzusetzen und die Verteilung vorzunehmen haben. Natürlich ist der Krippenausbau nicht nur hinsichtlich der Quantität, sondern auch hinsichtlich der Qualität nach wie vor ein wichtiges Thema. Hier wollen wir die Kommunen unterstützen, das Richtige zu tun. Es wird kein Ganztagsschulprogramm im klassischen Sinne wie zu rot-grüner Zeit geben – das bedauere ich; das will ich ganz deutlich sagen –, weil wir es nicht geschafft haben, das Kooperationsverbot insgesamt zu revidieren. Aber wir können, werden und wollen Mittel finden, um Kommunen und Länder beim Ausbau der Ganztagsbetreuung, zum Beispiel bei der Schulsozialarbeit, besser zu unterstützen. Auch da haben wir als Bund Verantwortung.

(Beifall bei der SPD)

Wir wollen für eine differenzierte Debatte in diesem Land sorgen.

(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie soll das denn gehen?)

Ja, wir haben Fortschritte erreicht, nicht nur bei den Leistungen, sondern auch bei der Minderung der sozialen Selektivität. Diese hat nun weniger Einfluss auf die Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen in diesem Land als vor zwölf Jahren. Aber ich sage ganz deutlich: Das ist kein Grund, im Bereich der Bildungspolitik in Deutschland die rosarote Brille aufzusetzen. Nach wie vor entscheiden der Bildungshintergrund und der soziale Hintergrund zu stark über die Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen in diesem Land.

(Özcan Mutlu [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Hört! Hört!)

Damit werden wir uns als Sozialdemokraten nicht abfinden. Wir haben ein anderes Menschenbild.

(Beifall bei der SPD)

Es geht im Kern nicht nur um Gerechtigkeit, sondern auch um Freiheit. Es geht um die Frage, ob wir es schaffen, dafür zu sorgen, dass das Leben für die Menschen offen ist, ob jeder in diesem Land eine Chance hat. Wir wollen nicht, dass Herkunft, Geschlecht oder Hautfarbe den Lebensweg bestimmen und die Menschen auf ihre Verhältnisse festnageln. Wir wollen, dass Menschen selbstbestimmt ihren eigenen Lebensweg beschreiten können, dass sie Autor ihres eigenen Lebens sind. Bei Chancengleichheit geht es aber auch um ökonomische Aspekte. Angesichts der demografischen Entwicklung können wir es uns schlicht und ergreifend wirtschaftlich nicht leisten, Kinder und Jugendliche in diesem Land zurückzulassen. Die entscheidende Frage lautet, welches Menschenbild wir haben und wie wir in dieser Gesellschaft miteinander umgehen. Wir arbeiten daran, dass Selbstbestimmung über Bildungschancen möglich ist.
Der große liberale Arzt Rudolf Virchow hat einmal den schönen Satz gesagt – er wird ihm zumindest zugeschrieben –, dass Freiheit zwei Töchter habe, nämlich Bildung und Gesundheit. Ich finde, das ist ein schönes Motto für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Lassen Sie uns daran arbeiten, Frau Ministerin Wanka, dass in diesem Land tatsächlich mehr freie Entfaltung der Persönlichkeit über bessere Bildungschancen ermöglicht wird. Das geht früh los. Wir müssen Eltern besser unterstützen. Wir müssen im Krippenbereich und bei den Kitas noch viel tun. Wir müssen weiter daran arbeiten, dass die Schnittstellen zwischen den Bildungsinstitutionen, zwischen der frühkindlichen Förderung und den Grundschulen beispielsweise – hier hat sich schon viel getan –, besser werden. Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam Lehrerinnen und Lehrern den Rücken stärken. Die Lehrerausbildung hat sich bereits verändert, muss sich aber weiter verändern. Wir brauchen Ganztagsschulangebote einschließlich Schulsozialarbeit in diesem Land. Wir müssen uns endlich wieder bewusst werden, welchen Stellenwert die berufliche Erstausbildung im dualen System in diesem Land hat. Das ist jahrelang nicht ausreichend gewürdigt worden.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Wir haben Fortschritte bei der Durchlässigkeit zum Hochschulstudium zugunsten derjenigen erzielt, die nicht die allgemeine Hochschulreife erlangt haben; das ist keine Frage. Aber auch hier können wir noch mehr tun. Wir müssen darüber reden, wie wir ein berufsbegleitendes Studium ermöglichen können. Wir dürfen das Wort „Weiterbildung“ nicht nur im Munde führen, sondern müssen sie auch institutionalisieren und dabei die verschiedenen Partner finanziell unterstützen.
Beim Thema Weiterbildung gilt in Deutschland gewissermaßen das NATO-Prinzip. Das hat nichts mit Sicherheitspolitik zu tun, sondern NATO steht hier für No Action, Talk Only. Wir sprechen unglaublich viel über Weiterbildung. Aber in diesem Land ist zu wenig passiert. Jeder spricht von lebensbegleitendem Lernen. Aber weder die Kultur noch die Institutionen noch die Finanzierung der Weiterbildung in diesem Land sind auskömmlich. Da kann man eine ganze Menge mehr tun.
Wir werden in diesen nächsten vier Jahren einiges nach vorne bewegen. Ich bin mir sicher, dass wir am Ende dieser Legislaturperiode feststellen können, dass wir auf dem Weg, den wir seit 2000 eingeschlagen haben, ein gutes Stück vorangekommen sind.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)