„Gute digitale Arbeit – Netzpolitik ist auch Netzarbeitspolitik“ in: Digitale Arbeit in Deutschland (2012)

Digitale Arbeit ist dann eine gute Arbeit, wenn sie der Emanzipation der Menschen dient.

Der Wandel zur digitalen Gesellschaft macht auch vor der Arbeitswelt nicht halt. Mit der informations- und kommunikationstechnischen Durchdringung haben sich fundamentale Veränderungen des Erwerbslebens vollzogen. Die industriegesellschaftlich geprägte Arbeitswelt und die mit ihr verbundenen regulatorischen Absicherungen werden in Frage gestellt, ohne dass diese bislang durch neue und den Herausforderungen des digitalen Umbruchs Rechnung tragende Vereinbarungen ersetzt worden sind. Kurz: die zunehmend digital geprägte Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts stößt auf die weitgehend industriell geprägten Arbeitsregularien des 20. Jahrhunderts.

Michael Schwemmle und Peter Wedde leisten mit der vorliegenden Studie zu dieser Herausforderung einen wichtigen Debattenbeitrag. Aus der „erhöhten Beweglichkeit digital vernetzter Arbeit“ leiten sie arbeitspolitische und -rechtliche Modernisierungserfordernisse ab. Je umfassender die Umwälzungen durch die räumliche und zeitliche Entgrenzung der Arbeit werden, so hat es Peter Struck im Vorwort dieser Studie formuliert, desto mehr sehen wir, dass die vermeintliche Freiheit auch neue Abhängigkeiten schafft, die von vielen Erwerbstätigen auch als Entsicherung, Belastung oder als Überforderung wahrgenommen werden. Nur mit dem entsprechenden politischen und rechtlichen Rahmen kann die digitale Vernetzung in der Arbeit Freiheitsräume eröffnen und humanisierende Potenziale heben. Dies ist bislang noch nicht ansatzweise gelungen.

Auffällig ist, dass Netzpolitik zwar seit einiger Zeit weit oben auf der politischen Agenda steht, das Thema Netzarbeitspolitik und die Veränderungen der digitalen Arbeitswelt dagegen in den vergangenen Jahren kaum thematisiert wurden. Diese Feststellung überrascht um so mehr, als die Enquete- Kommission des Deutschen Bundestages „Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft – Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft“ bereits im Jahr 1998 festgestellt hat, dass sich „in den Industriestaaten gegenwärtig ein grundlegender Wandel vollzieht, der in seinen Wirkungen vergleichbar mit dem Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft im letzten Jahrhundert ist“ und dass dieser „Wandel – ähnlich wie dies bei der industriellen Revolution der Fall war – vor allem in der Arbeitswelt zu tiefgreifenden Umbrüchen führen wird.“ Die Kommission hat zahlreiche Handlungsempfehlungen für die Gestaltung der sich verändernden Arbeitswelt ausgesprochen, die in der politischen Debatte allerdings kaum Beachtung fanden. Es ist durchaus lohnenswert, diese Handlungsempfehlungen vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion nochmals zu lesen.

Heute, vierzehn Jahre nach dem zitierten Bericht der Enquete-Kommission, gibt es auf der einen Seite kaum einen Bereich der Erwerbstätigkeit, der ganz ohne Informations- und Kommunikationstechnik auskommt. Andererseits ist zu konstatieren, dass das Thema „digitale Arbeit“ bis Anfang des Jahres 2012 weitgehend von der öffentlichen Agenda verschwunden war. Zwar werden angesichts immer neuer Bespitzelungsskandale von Telekom, LIDL und Co. immer wieder und zunehmend heftigere Diskussionen über den mangelnden Beschäftigtendatenschutz geführt. Daneben wird zumindest ansatzweise der Arbeits- und Lebensstil der sogenannten „digitalen Bohème“ thematisiert. Insgesamt bleibt aber der Befund, dass zwar die informations- und kommunikationstechnische Durchdringung der Gesellschaft immer

weiter voranschreitet, dass aber gleichzeitig der gesellschaftliche und politische Diskurs über ihre Gestaltung und Gestaltbarkeit zumindest im Bereich der digitalen Arbeit weitgehend ausgeblieben ist.

Die beiden Autoren gehen daher zu Recht von der These aus, dass es nicht zuletzt dieser „Gestaltungsabstinenz“ der zurückliegenden Jahre geschuldet sein dürfte, dass die Chancen der digitalen Vernetzung zur Erhöhung der Arbeitsqualität und die Potenziale der digitalen Arbeitswelt für viele Erwerbstätige bis dato bei weitem noch nicht ausgeschöpft worden sind – im Gegenteil. Die Digitalisierung der Arbeit führt, so kann man die Ergebnisse der Studie zusammenfassen, offensichtlich nicht im Selbstlauf zu ihrer Humanisierung. Dazu bedarf es vielmehr arbeitspolitischer Initiativen auf unterschiedlichen Ebenen, die darauf gerichtet sein müssen, den Wandel im Sinne „guter digitaler Arbeit“ gestaltend zu beeinflussen, reale Freiheitsgrade für möglichst viele Erwerbstätige zu eröffnen und abzusichern, rechtliche und qualifikatorische Ressourcen bereitzustellen und auch, wo nötig, neue Begrenzungen zu setzen.

Eine der Ursachen dieser „Gestaltungsabstinenz“ sehen die Verfasser des Gutachtens darin, dass sich das Thema nur schwerlich in traditionelle „Schachtelpolitiken“ (Peter Glotz) einfügt. So habe die klassische Arbeits- und Sozialpolitik, die sich in der Verantwortung sehen müsste, das Thema noch nicht wirklich für sich entdeckt. Aber auch auf dem neuen, längst noch nicht zur Gänze erschlossenen Terrain der Netzpolitik spiele „gute digitale Arbeit“ bis auf wenige Ausnahmen nach wie vor keine wahrnehmbare Rolle. Wenn es stimmt, dass Netzpolitik Gesellschaftspolitik sein muss, dann muss Netzpolitik auch Netzarbeitspolitik sein. Die Gestaltung der digitalen Arbeitswelt ist – neben den Tarifvertragsparteien – auch und vor allem Aufgabe der Politik und wer, wenn nicht die SPD, kann für eine Netzarbeitspolitik stehen, die an arbeits- und lebensweltliche Interessen, Probleme und Alltagsrealitäten eines großen Teils der Erwerbstätigen anknüpft, die damit verbundenden Freiheitsgrade eröffnet und, wo nötig, auch Begrenzungen einzieht.

In jüngster Zeit war allerdings ein erhebliches Rauschen im deutschen Blätterwald zu vernehmen. Spätestens nachdem der SPIEGEL im Februar 2012 unter der Überschrift „Frei schwebend in der Wolke“ über „Beschäftigungsmodelle der Zukunft“, wie sie sich beispielsweise IBM vorstellt, berichtet hatte.4 Daneben wurden unter den Stichworten Erreichbarkeitsstress, HandySperre und Mailserverabschaltung nach Feierabend zunehmend die möglichen Nebenwirkungen der zunehmenden Entgrenzung der Arbeitswelt aufgegriffen. „Sei doch mal still!“, überschrieb wiederum der SPIEGEL im Juli 2012 seine Titelgeschichte als „Anleitung zu einer digitalen Diät“ und zeigte ein zum Schweigen verdonnertes iPhone.5 Im Kern geht es um die Verschmelzung von Arbeit und Privatem durch die Entkoppelung von Raum und Zeit in der digitalen Gesellschaft. Die Frage lautete: Wo und wann fängt die Arbeit, wo das Private?

Inzwischen hat sich auch die Politik des Themas angenommen. Der Deutsche Bundestag hat erneut eine Enquete-Kommission eingerichtet, diesmal zum Thema „Internet und digitale Gesellschaft“. Diese beschäftigt sich derzeit mit dem Wandel der digitalen Arbeitswelt. Im Herbst wird die Projektgruppe „Arbeit, Wirtschaft, Green IT“ ihren Bericht einschließlich Handlungsempfehlungen für den Deutschen Bundestag vorlegen. Selbst die Bundesregierung scheint das Thema zumindest wahrgenommen zu haben: die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen fordert „glasklare Regelungen“, zu welchen Uhrzeiten man erreichbar sein muss, wann es eine Ruheausgleich geben und wann man seine Mails checken muss. Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass die schwarz-gelbe Regierungskoalition sich hier auf konkrete Vorschläge verständigen wird.

Gute digitale Arbeit kann Freiheitsräume eröffnen

Wir wollen den Begriff „Gute digitale Arbeit“ ins Zentrum der Diskussion rücken. Was ist damit gemeint? Der Begriff hat eine doppelte Bedeutung: Gute digitale Arbeit ist sowohl aus Sicht der Unternehmen, als auch aus der Perspektive der Erwerbstätigen – sozusagen als Kehrseite derselben Medaille – zu definieren. Unternehmen sind auf gute, effizient zustande gekommene Arbeitsergebnisse angewiesen, um ihre Produkte und Dienstleistungen wirtschaftlich erfolgreich vermarkten zu können. Dazu bedarf es motivierter und qualifizierter Erwerbstätiger, die ihrerseits ein ausgeprägtes Eigeninteresse an Arbeitsqualität haben.

Das Gutachten definiert digitale Arbeit als berufliche Tätigkeit mit digitalen Arbeitsmitteln und Arbeitsinhalten. Dies ist heute der dominierende Typus moderner Erwerbstätigkeit. Die Mehrzahl der Beschäftigten in Deutschland leistet regelmäßig digitale, präziser: digital vernetzte, Arbeit. In manchen Branchen nähern sich die entsprechenden Anteile bereits der 100%-Grenze, so etwa im IuK-Sektor oder bei den Finanzdienstleistungen. Die Verbreitung, vor allem aber die Intensität digitaler Arbeit dürften in naher Zukunft noch deutlich ansteigen. Allein ihre quantitative Dominanz zeigt, dass es sich hier um ein Thema handelt, das alle betrifft. Es wäre in jedem Fall verkürzt, digitale Arbeit nur in Sphären von Internet-Start-Ups, der „digitalen Bohème“ und Softwareschmieden zu verorten und damit als noch immer eher randständiges Phänomen zu unterschätzen.

Was ist – über alle Varianten und Differenzierungen hinweg – das zentrale und neue Charakteristikum digital vernetzter Arbeit? Nach Auffassung der Gutachter ist das vor allem ihre ausgeprägte Beweglichkeit. Neue digitale Beweglichkeit von Arbeit bedeutet demnach dreierlei: die Mobilität der Arbeitsgegenstände (Cloud), der Arbeitsmittel (Smartphone, Tablet, Notebook) und der arbeitenden Personen. Hieraus ergeben sich viele Optionen für fluidere, flexiblere, entgrenzte Organisationsvarianten in Arbeitsprozessen. Diese kollidieren nicht selten mit überkommenen arbeits- und sozialrechtlichen Regulierungen, welche in ihren Zielsetzungen – Schutz und Sicherheit – keineswegs obsolet geworden sind. Sie stellen aber auf Konstanten ab, die in dieser Form nicht mehr durchgängig gegeben sind: feste Arbeitsplätze, invariante Arbeitszeiten, stabile Normalarbeitsverhältnisse, um nur drei zu nennen.

Weil das Arbeitsrecht aber auf derlei Konstanten basiert, wirkt es im Kontext digital vernetzter Arbeit oft so hoffnungslos überfordert und unmodern. Da die genannten Konstanten aber keineswegs gänzlich aus dem Arbeitsleben verschwunden sind und unverzichtbare Schutznormen nach wie vor auf diesen gründen, kann das derzeitige Arbeitsrecht gleichwohl nicht umstandslos entsorgt werden. Es bedarf seiner Anpassung. Wie schwierig dies ist, lässt sich im arbeitsrechtlichen Teil der Studie von Michael Schwemmle und Peter Wedde nachlesen.

Erschwerend kommt hinzu, dass – oftmals aus guten Gründen und aufgrund schlechter Erfahrungen – manche Gewerkschafter und auch manche Sozialdemokraten die digitale Vernetzung der Arbeitswelt primär als bedrohliche Entwicklung wahrnehmen. Dies ist eine nachvollziehbare, gleichwohl unvollständige Sicht auf das gesamte, ausgesprochen ambivalente Potenzial digital vernetzter Arbeit.

Die neue digitale Beweglichkeit von Arbeit verbindet sich nämlich zugleich mit einer realistischen Vision für Erwerbstätige, die im Industrialismus noch völlig undenkbar war: Es ist die Vision (und vielleicht irgendwann die Option), zumindest einen Teil ihrer beruflichen Aufgaben wann und wo sie wollen zu erledigen – und dies unter Umständen, die sie als angemessen empfinden. Uns ist ebenso wie den Autoren ein wichtiges Anliegen, die Tragweite dieser oft erwähnten und fast schon zerredeten Option herauszustellen. Wenn man mit Oskar Negt das Ausmaß, in dem Menschen über Raum und Zeit verfügen, als den Kern ihrer Freiheit bzw. Unfreiheit versteht, so wird deutlich, dass hier eine Menge auf dem Spiel steht. Digitale Vernetzung der Arbeit kann Freiheitsräume eröffnen und mehr reale Freiheit in den Arbeitsalltag der Beschäftigten bringen. Es geht um ein Stück Befreiung der Arbeit. Und damit auch um ein Stück Wiedereroberung des von den Neoliberalen okkupierten Freiheitsbegriffs. Ein solcher an den Potenzialen orientierter Ansatz darf jedoch nicht außer Acht lassen, dass die Realisierung von mehr Freiheit in der Arbeit eine höchst voraussetzungsvolle Angelegenheit ist. Ob Erwerbstätige die mit der digitalen Technik prinzipiell erschließbaren Freiheitsgrade auch tatsächlich zu ihrem eigenen Nutzen realisieren können, hängt in hohem Maße davon ab, über welche Rechte, Ressourcen und Verhandlungsspielräume sie verfügen. D.h. konkret, inwieweit sie Orts- und Zeitsouveränität gegen Zielvorgaben, Leistungs- und Präsenzforderungen von Vorgesetzten oder Auftraggebern durchzusetzen vermögen. Wenn sie darüber verfügen – was heute nur unzulänglich der Fall ist –, so könnten aus der Vernetzung von Arbeit wichtige Impulse für ihre Humanisierung entstehen. Hier liegt die zentrale Aufgabe sozialdemokratischer Netzarbeitspolitik.

Digitale Arbeit bedarf der politischen Gestaltung: eine neue Netzarbeitspolitik

Ein zentrales Ergebnis von Michael Schwemmle und Peter Wedde ist leider auch, dass es bisher nicht ausreichend gelungen ist, das humanisierende und emanzipierende Potenzial der digitalen Arbeit ausreichend zu nutzen. Zwar wird zunehmend digital mobil gearbeitet, aber nur selten unter Umständen, die von den Beschäftigten selbst bestimmt werden und an ihren Interessen orientiert sind. Weit gestaltungsmächtiger sind die Verfügungsmacht von Arbeit- oder Auftraggebern. Dies zeigt sich oftmals in unrealistisch hohen Zielvorgaben und uferlos verlängerten Arbeitszeiten sowie der vielerorts erwarteten ständigen Erreichbarkeit. Mit dem eingangs erwähnten von IBM konzipierten Liquid-Modell zeichnet sich mittlerweile ein Negativ-Szenario der totalen Verflüssigung und Entsicherung digitaler Arbeit ab, das das genannte Freiheitsversprechen zu pervertieren und prekarisiertes Tagelöhnertum zum neuen Standard zu erheben droht.

Diese Diagnose zeichnet politischen Handlungsbedarf auf und benennt dessen Eckpunkte: Digitale Arbeit wird nicht durch die Technik alleine besser werden. Vielmehr gilt es, sie durch gezielte Intervention zu humanisieren,

die Chancen auf die Eröffnung von Freiheitsräumen zu nutzen, diese durch Rechte und Ressourcen für Erwerbstätige zu sichern, Verfügbarkeitszumutungen und Prekaritätsrisiken zu begrenzen und gesundheitliche Beeinträchtigungen zu minimieren.

Welche Art von Politik soll dies leisten? Ist das noch klassische Arbeitsmarktpolitik? Ist das schon Netzpolitik? Schlimmstenfalls würden sich weder die Netzpolitikerinnen und -politiker noch die Arbeitsmarktpolitikerinnen und -politiker für die großen Fragen der digitalen Arbeit zuständig fühlten. Es bedarf einer „Netzarbeitspolitik“, also eines Zusammenwirkens beider Politikfelder. Es war die SPD, die es während der Industrialisierung als erste Partei verstanden hat, diesen tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbruch zu gestalten. Gleiches muss nun für die Digitalisierung gelten. Wir müssen Netzpolitik endlich als Gesellschaftspolitik und damit auch als Netzarbeitspolitik verstehen. Es ist die große Chance der SPD, dass sie – anders als andere – sowohl Netzpolitiker als auch Arbeits- und Sozialpolitiker klassischer Prägung in ihren Reihen hat. Diese kann und sollte sie zusammenbringen. So kann die Sozialdemokratie weiter die Humanisierung der Arbeit vorantreiben und als politische Kraft das Freiheitsversprechen digitaler Arbeit einzulösen helfen.

Was aber kann eine Netzarbeitspolitik leisten und über welche Instrumente verfügt die Politik, um die Humanisierung digitaler Arbeit voranzubringen? Das Gutachten von Michael Schwemmle und Peter Wedde benennt hier kurz- und mittelfristige Ansatzpunkte. So kann eine moderne Netzarbeitspolitik bestimmte wünschenswerte Entwicklungen fördern. Denkbar wären etwa die Unterstützung von Co-Working-Spaces als Anlaufpunkte für digital mobile Beschäftigte im öffentlichen Raum oder auch Initiativen zur modellhaften Implementation von Telearbeit, beispielsweise im öffentlichen Dienst. Ergänzt werden sollten diese Maßnahmen nach Auffassung der Gutachter durch Innovationen auf den verschiedenen Ebenen des Bildungssystems, um die qualifikatorischen Ressourcen zu ermöglichen, die bei digitaler Arbeit unabdingbar sind. In der Enquete-Kommission haben die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion und die von ihr benannten Sachverständigen hierfür den Begriff der „digitalen Selbstständigkeit“ geprägt.

Diese eher „weichen“ Ansätze des Förderns von Modellen und Qualifikationen sind nach Auffassung der Gutachter zwar unverzichtbar, sie allein aber reichen nicht aus. Daneben müssen im Interesse der Erwerbstätigen auch regulierende Interventionen treten, die den Betroffenen rechtlich abgesicherte Freiheitsräume eröffnen und ihre Teilhabechancen ausweiten, zugleich aber die „digitalen Zumutungen“ (Michael Schwemmle und Peter Wedde) – etwa solche einer uneingeschränkten und permanenten Verfügbarkeit oder einer kompletten Entsicherung – eindämmen.

Das bedeutet, dass weite Teile der auf fixen Arbeitsorten und stabilen, abhängigen Arbeitsverhältnissen basierenden Regeln auf den Prüfstand müssen. Das ist eine größere und nur in längerer Zeitperspektive zu bewältigende Aufgabe, die allerdings niemand ernsthaft angehen wird, wenn es die SPD nicht tut. Was kurzfristig zu realisierende Ansätze angeht, diskutieren wir derzeit, inwieweit wir diese in das SPD-Wahlprogramm aufnehmen können. Mit dem Gutachten werden drei konkrete Forderungen aufgestellt:

  • ein Anspruch auf „Telearbeit“ von Beschäftigten auf Tätigkeitsanteile an einem selbstbestimmten Ort während der üblichen Arbeitszeiten;
  • ein Recht auf Nichterreichbarkeit, zumindest aber auf Nicht-Reaktion außerhalb bestimmter Arbeitszeiten;
  • ein Recht prekarisierungsgefährdeter (Solo-)Selbstständiger auf angemessene und kontinuierliche Einbeziehung in die kollektiven Systeme sozialer Sicherung unter Beteiligung der Auftraggeber an der Finanzierung.

Bausteine einer sozialdemokratischen Netzarbeitspolitik

Die SPD will den Wandel der Arbeitswelt gestalten und die Voraussetzungen für „gute digitale Arbeit“ schaffen. Erste Weichenstellungen hat sie bereits auf dem Bundesparteitag in Berlin 2012 mit dem Leitantrag „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in der digitalen Gesellschaft“ vorgenommen.7 Im Rahmen des Zukunftsdialoges der SPD-Bundestagsfraktion arbeiten wir derzeit an einem Kreativpakt aus Politik, Wirtschaft, Gewerkschaften und Kreativschaffenden und suchen nach Lösungsansätzen, um die digitale Arbeit und Wirtschaft und insbesondere auch die Kultur- und Kreativwirtschaft zu gestalten.

Daneben hat sich auch die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ sehr intensiv mit diesen Fragestellungen beschäftigt. Die Enquete- Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion und die von ihr benannten Sachverständigen haben bei den Beratungen in der Enquete-Kommission die mit diesem Gutachten vorgelegten Empfehlungen aufgegriffen und weiterentwickelt. Im Kern gilt es, entsprechende Rechte einzuräumen, konsensbasierte Lösungen zu fördern und Impulse für eine menschengerechte Gestaltung ortsflexibler Arbeit zu geben. Vor diesem Hintergrund haben wir, neben den zahlreichen Vorschlägen zu den sozialen Sicherungssystemen, zum Beschäftigtendatenschutz oder auch zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, mit Blick auf die neue Beweglichkeit digital vernetzter Arbeit folgende konkrete Vorschläge für die Handlungsempfehlungen der Enquete-Kommission eingebracht:

  • „Um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mehr Orts- und Zeitsouveränität bei ihrer Arbeit zu ermöglichen, sollte ihnen ein Rechtsanspruch auf ein Mindestmaß an Tätigkeitsanteilen eingeräumt werden, die während der betriebsüblichen Arbeitszeiten an einem von den Beschäftigten selbst zu bestimmenden Arbeitsplatz erbracht werden dürfen („Recht auf selbstbestimmte Telearbeit“). Eine entsprechende gesetzliche Regelung könnte sich strukturell an einschlägige Bestimmungen zur Teilzeitarbeit im Gesetz über Teilzeit und befristete Arbeitsverträge (TzBfG) anlehnen und beispielsweise vorsehen, dass Anträge von Beschäftigten auf Telearbeit zu realisieren sind, „soweit betriebliche Gründe nicht entgegenstehen“ (§ 8 Abs. 5 TzBfG). Im Rahmen eines solchen Regelungswerks müsste zudem eine Garantie des arbeitsrechtlichen Schutzrahmens (siehe hierzu die Handlungsempfehlungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz) und der Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der betrieblichen Interessenvertretungen bei der Planung und Umsetzung entsprechender Maßnahmen normiert werden.
  • Zur Unterstützung der Diffusion human gestalteter Modelle mobilen Arbeitens sollte auch für Deutschland eine Gesetzesinitiative nach dem Muster des in den USA im Jahr 2010 in Kraft getretenen Telearbeitsförderungsgesetzes („Telework Enhancement Act“) erwogen werden. Dieses Regelungswerk sieht für den Bereich der US-Bundesverwaltung verbindliche Maßnahmen zur Erhöhung des Anteils von Telebeschäftigten vor. Auch ohne vergleichbar verpflichtende Rechtsnormen müssen konsensbasierte Projekte zur Implementierung guter Telearbeit im öffentlichen wie im privaten Sektor wieder verstärkt initiiert und gefördert werden-
  • Unabhängig von bzw. in Ergänzung zu und Umsetzung von gesetzlichen Regelungen sollten die Betriebs- und Tarifparteien branchen-, unternehmens- und betriebsspezifische Vereinbarungen schließen, die darauf abzielen, die Spielräume, die sich aufgrund der räumlichen und zeitlichen Disponibilität von vernetzter Arbeit eröffnen, zugunsten einer erweiterten Autonomie und einer verbesserten Work-Life-Balance der Beschäftigten zu nutzen
  • und die potenziellen Risiken, Belastungen und Beanspruchungen, die sich mit ortsflexibler Arbeit verbinden können, zu begrenzen.“

Die Option, prinzipiell immer und überall arbeiten zu können, stellt die wohl bedeutsamste und zugleich chancenreichste Veränderung dar, welche digital vernetzte Berufstätigkeit von klassisch betriebsgebundener unterscheidet. Allerdings gilt es auch dafür Sorge zu tragen, dass aus dieser im Sinne erweiterter Handlungsspielräume auch für Erwerbstätige begrüßenswerten Entwicklung nicht der faktische Zwang einer permanenten Erreichbarkeit und ubiquitären Verfügbarkeit entsteht. Ergänzend haben wir daher unter dem Stichwort Mobilität folgenden Textvorschlag in die Arbeit der Enquete-Kommission eingebracht:

  • „Der selbstverantwortliche Umgang mit den neuen Freiheiten orts- und zeitflexibler Arbeit ist als wichtiges Element digitaler Medienkompetenz zu betrachten und sollte zum Gegenstand verstärkter Qualifikationsbemühungen in der schulischen, universitären und beruflichen Aus- bzw. Weiterbildung werden. Entsprechende Module müssen auf die Befähigung der Betroffenen zur Selbstorganisation und Strukturierung des Arbeitsalltags außerhalb betrieblicher Routinen sowie zur Grenzziehung zwischen beruflichen und privaten Tätigkeiten abzielen und die Sensibilisierung für Belange des Arbeits- und Gesundheitsschutzes ebenso befördern wie den Respekt für die Erreichbarkeits- und Verfügbarkeitsgrenzen anderer, insbesondere auch weisungsabhängiger Erwerbstätiger.
  • Die Betriebs- und Tarifparteien sind aufgefordert, negativen Effekten digital erweiterter Erreichbarkeit und Verfügbarkeit durch geeignete Vereinbarungen entgegenzuwirken. Diese sollten situationsadäquate Regelungen vorsehen, welche die Mitarbeiter außerhalb festzulegender Zeiten von formellen wie informellen Erreichbarkeitszwängen befreien und entsprechende Benachteiligungsverbote vorsehen. In diesem Zusammenhang können auch flankierende technische und organisatorische Maßnahmen angezeigt sein, die etwa zu gewährleisten hätten, dass jeder Login-Vorgang durch Beschäftigte außerhalb definierter Arbeitszeitfenster einen Vergütungs- oder Zeitausgleichsanspruch auslöst.
  • Auf der Ebene der Gesetzgebung erscheint es – vor allem im Blick auf die nicht von tariflichen oder betrieblichen Vereinbarungen erfassbaren Bereiche der Erwerbssphäre – darüber hinaus sinnvoll, ein „Recht auf Nichterreichbarkeit und Nicht-Reaktion“ im Arbeitszeitgesetz zu verankern, welches dann einsetzt, wenn Höchstarbeitszeiten überschritten sind oder die Voraussetzungen für Ruhepausen und -zeiten ausgelöst werden. Des weiteren empfiehlt sich eine klarstellende Ergänzung des arbeitszeitbezogenen Mitbestimmungsrechts in § 87 Abs. 1 Nr. 2 des Betriebsverfassungsgesetzes, welche neue, durch digitale Vernetzung zunehmend ermöglichte Arbeitszeitmodelle – wie z.B. „Vertrauensarbeitszeit“ – der uneingeschränkten Mitbestimmung unterwirft.“

Eine abschließende Beratung der Vorschläge in der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft steht zwar noch aus, aber es zeichnet sich ab, dass die schwarz-gelbe Koalition diese Vorschläge – wie beinahe alle Vorschläge zur Gestaltung der digitalen Arbeit und zum Schutz der Interessen der Erwerbstätigen – ablehnen wird.

Die Chancen und Potenziale der digitalen Arbeit wie auch deren mögliche negative Folgen haben Michael Schwemmle und Peter Wedde in diesem Gutachten überzeugend herausgearbeitet. Zu Recht mahnen sie an, dass es jetzt der Etablierung einer modernen Netzarbeitspolitik bedarf, damit die Chancen der Digitalisierung hin zu mehr Humanisierung und Emanzipierung der Arbeitswelt nicht vertan werden. Wenn die Politik es versäumt, Voraussetzungen für eine gute digitale Arbeit zu schaffen, wird diese langfristig nicht mit einer Steigerung der Freiheitsgrade verbunden werden, sondern mit Entsicherung und Überforderung.

Die Diskussion um die Ausgestaltung der digitalen Arbeitswelt steht erst am Anfang. Die SPD ist die Partei der Arbeit. Arbeit ist die Grundlage für Zufriedenheit, Selbstwert und für innere Würde, und sie integriert in die Ge-

sellschaft. Wir setzen deshalb auf das Leitbild der „Guten digitalen Arbeit“ und laden ein, mit uns in die Diskussion zu den Gestaltungsmöglichkeiten der digitalen Arbeitswelt einzusteigen. Aus unserer Sicht können die auf dem Gutachten basierenden Vorschläge wichtige Bausteine einer sozialdemokratischen Netzarbeitspolitik sein und wir werden diese – in Abstimmung mit den Arbeits-, Wirtschafts- und Netzpolitikern sowie den Gewerkschaften weiterentwickeln und konkretisieren. Wir sind uns sicher, dass diese auch Eingang finden werden in das Regierungsprogramm zur Bundestagswahl 2013. Die SPD will die sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität auch in der digitalen Gesellschaft verankern.

Abschließend möchten wir der Friedrich-Ebert-Stiftung für die Ermöglichung des Gutachtens „Digitale Arbeit in Deutschland: Potenziale und Problemlagen“ und den beiden Gutachtern, Michael Schwemmle und Prof. Dr. Peter Wedde, für die herausragende Expertise danken. Sie haben damit wichtige Anregungen für die Gestaltung der digitalen Arbeitswelt gegeben.

Zu den Autoren:

  • Lars Klingbeil, MdB ist Netzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Obmann der Enquete-Kommission Internet und Digitale Gesellschaft.
  • Hubertus Heil, MdB ist Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und zuständig für die Bereiche Wirtschaft und Arbeit.
  • Lothar Schröder ist Gewerkschaftssekretär und Mitglied der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft.