„Die digitale Kluft überwinden: Auch der Zugang zu Neuen Medien entscheidet über Lebenschancen“, in: Media-Governance und Medien-Regulierung. Plädoyers für ein neues Zusammenwirken von Regulierung und Selbstregulierung

Noch mehrere Jahrzehnte nach der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert soll es Mönche gegeben haben, die jedes einzelne gedruckte Exemplar Korrektur lasen. Die Mönche begriffen die neue Technik einfach nicht – geschweige denn, dass sie es mit einer Medienrevolution zu tun hatten, die ihre Gesellschaft grundlegend verändern würde.

Häufig wird die revolutionäre Kraft der neuen Medien unserer Zeit mit jener des Buchdrucks verglichen. Tatsächlich gibt es kaum einen gesellschaftlichen Bereich, den die digitalen Medien mit ihren völlig neuen Möglichkeiten der Übermittlung, Interaktion und Übertragung von Inhalten nicht verändern: soziale Kontakte und Kommunikation, Wirtschaft und Politik, Journalismus und Demokratie. Die enormen Potenziale von Digitalisierung, Computer und Internet schöpfen wir noch nicht annähernd aus. Unsere Zukunft wird ganz entscheidend davon abhängen, ob es uns gelingt – anders als die Mönche vor 500 Jahren –, die Chancen der digitalen Welt zu erkennen und auf den Wandel zu reagieren.

Der Schlüsselbegriff heißt Zugang. Um die Vorteile der Digitalisierung zu nutzen, müssen alle Menschen zunächst einmal den gleichen Zugang zu allen Übertragungswegen und damit zu Wissen und Information haben. Gleiche Lebenschancen für alle – dieses sozialdemokratische Ziel ist im 21. Jahrhundert ohne gleiche Chancen bei der Nutzung neuer Medien nicht zu erreichen. Wenn nicht alle Bürger zumindest die Möglichkeit haben, an der digitalen Welt teilzuhaben, droht eine „digitale Kluft“ zwischen denjenigen, die „angeschlossen“ und anderen, die „ausgeschlossen“ sind – mit allen negativen sozialen Folgen. Nach diesem Szenario könnten die wirtschaftlich besser gestellten und höher gebildeten Bevölkerungsgruppen von dem wachsenden Informationsfluss und neuen Kommunikationswegen deutlich stärker profitieren als Gruppen mit geringerer Bildung. Die digitale Kluft würde den Abstand zwischen Oben und Unten vergrößern, anstatt ihn zu verkleinern. Gerade deshalb muss sozialdemokratische Medienpolitik den digital divide mit aller Kraft verhindern.

Das Ziel eines – umfassend verstandenen – Zugangs bedeutet, dass jeder Einzelne in die Lage versetzt wird, sich in der digitalen Welt zurechtzufinden. Er muss nicht nur die verschiedenen Medien kennen und technisch beherrschen, sondern auch die Informationen aus der Datenflut herausfiltern, bewerten und einordnen können. Somit wird Bildung als Grundvoraussetzung für „Verwirklichungschancen“ im Sinne Amartya Sens im Internetzeitalter wichtiger als je zuvor. Die SPD plädiert daher für eine „Stiftung Medienkompetenz“, getragen von den Landesmedienanstalten und anderen Akteuren. Auch müssen Kindertagesstätten, Schulen, Universitäten und sonstige Bildungseinrichtungen noch mehr Wert auf die Vermittlung von Medienkompetenzen legen, was eine bessere medienpädagogische Ausbildung der Erzieher und Lehrer erforderlich macht. Konkret schlagen wir vor, sowohl in Kindertagesstätten und Schulen als auch für Pädagogen und Eltern „Medienführerscheine“ anzubieten, um Kenntnisse auf einem gewissen Niveau nachweisen zu können.

Zwingend notwendig ist außerdem der Aufbau einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur. Noch immer haben rund 40 Prozent aller Haushalte keinen Breitbandanschluss. Unser Ziel ist es, allen Bürgern und Unternehmen in Deutschland  bis 2020 einen leistungsfähigen und erschwinglichen Breitbandanschluss zur Verfügung zu stellen. Der Ausbau eines hochleistungsfähigen Breitbands erfordert Investitionen und ist eine Aufgabe für alle Betreiber. Deshalb werden wir alle Netzbetreiber auf dieses Ziel verpflichten; der freiwillige Zusammenschluss der Betreiber in einer europarechtskonformen „Breitband AG“ ist unsere erste Priorität. Zugleich muss ein Rechtsrahmen die Verbraucher vor zu hohen Preisen für Telekommunikation schützen – ebenso wie in den übrigen liberalisierten Netzindustrien wie Energie oder Post. Und für diejenigen, die sich die neuen Technologien dennoch nicht leisten können, sollen noch mehr öffentliche Einrichtungen – Rathäuser, Schulen, Bibliotheken – mit Computern ausgestattet werden. Internetzugänge sind Teil der öffentlichen Infrastruktur.

Nirgendwo wird der Zusammenhang zwischen Lebenschancen und Zugang zu neuen Medien so deutlich wie in der Arbeitswelt. Es gibt heute kaum einen Arbeitsplatz, den Computer und Internet nicht bereits verändert haben: Die Kommunikation in den Betrieben hat sich beschleunigt; Informationsbeschaffung und Wissenstransfer sind einfacher geworden; neue Formen der Arbeitsteilung und Teamarbeit sind möglich. Im Ergebnis können innovative Produkte und Dienstleistungen schneller und qualitativ hochwertiger hergestellt werden als früher. Neue Geschäftsmodelle schießen wie Pilze aus dem Boden.

Zugleich ist die Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen immer wichtiger geworden. Das ist ein Grund dafür, dass neue Arbeitsplätze in den kreativen Berufen entstanden sind und weiter entstehen. An jedem hergestellten Auto, jeder Zahnbürste, jedem Parfüm sind Heerscharen von Werbetextern, Grafikern, Sound-Designern und Marketingstrategen beteiligt. Gute Ideen und Kreativität sind für die Wertschöpfung von Unternehmen so wichtig wie nie zuvor. Allein zwischen 2006 und 2008 stieg die Zahl der erwerbstätigen Kreativen um rund acht Prozent an. Mit einem bundesweiten Umsatz von rund 128 Milliarden Euro (2007) ist dieser Sektor größer als die Chemiebranche und vergleichbar mit der Automobilindustrie.

Die gute Nachricht lautet: Viele Jobs in der Kreativwirtschaft zählen zu den lovely jobs. Anders als die Besitzer von lousy jobs gehen die Kreativen überwiegend gern zur Arbeit. Sie sind hoch motiviert, und nicht wenige genießen die Vorzüge ihrer Selbständigkeit – nie war es so einfach wie heute, eine eigene Firma zu gründen. Kurz: Im Idealfall sind die neuen Medien Keimzelle für mehr und bessere Jobs, für bessere Produkte, neue Unternehmen und zusätzliche Wertschöpfung.

Freilich hat diese schöne neue Arbeitswelt auch ihre Schattenseiten. Die rasante Beschleunigung der Kommunikation kann auch zu einer Belastung werden, und zwar nicht nur in den kreativen Berufen. Und die „kreative Klasse“ selbst mag interessante Aufgaben erledigen und Herr der eigenen Zeit sein, aber viele Kreative arbeiten für wenig Geld, hangeln sich von Projekt zu Projekt, sind mit der unternehmerischen Seite ihrer (häufig solo-selbständigen) Tätigkeit überfordert und überdies nicht sozialversichert. Auf diese Probleme müssen dringend neue sozial- und wirtschaftspolitische Antworten gefunden werden. Es geht um den Erhalt und die Förderung von Vielfalt, die Stärkung der Künstlersozialversicherung, um Tarifverträge und soziale Mindeststandards auch in Kultur und Medien. Und natürlich um ein Urheberrecht, das geistiges Eigentum schützt und eine angemessene Vergütung ermöglicht.

An dieser Stelle wird klar, dass die aktuellen Veränderungen durch neue Medien politische Maßnahmen erfordern, die weit über das Politikfeld Medien hinausgehen. Anders herum: Medienpolitik ist wie nie zuvor auch Gesellschaftspolitik. Fragen wie Recht und Freiheit im Internet, der Jugendmedienschutz oder der Umgang mit persönlichen Daten sind keine Nischenthemen, sondern bestimmen die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.

Gerade Sozialdemokraten, denen oft ein Fokus auf alte Industrien unterstellt wird, haben sich dieser Herausforderung mehr als andere Parteien gestellt. Im Gegensatz zu den Konservativen, die in den neuen Medien in erster Linie ein Objekt der Wirtschaftsförderung sehen, und anders als die Liberalen, die sie komplett dem Markt überlassen wollen, stehen wir für Konzepte, die wirtschaftliche Dynamik und individuelle Lebenschancen miteinander verbinden. Dabei spielt der Staat eine zentrale Rolle als Ermöglicher, Förderer und Interessensvermittler und wenn es um Freiheit und Recht in der digitalen Welt geht. Nur so können wir verhindern, dass spätere Generationen über uns so den Kopf schütteln wie wir über die Mönche zu Zeiten Johann Gutenbergs.

 

Dieser Artikel von Hubertus Heil ist erschienen in „Media-Governance und Medien-Regulierung. Plädoyers für ein neues Zusammenwirken von Regulierung und Selbstregulierung“, Herausgeber: Marc-Jan Eumann und Martin Stadelmaier, vorwärts buch, 2009

Das Buch ist unter anderem bei Amazon erhältlich.