„Ein neuer Aufbruch für den Fortschritt“ in: Berliner Republik (2008), Heft 1

Zum historischen Ort des Hamburger Programms der SPD

Am Anfang des 21. Jahrhunderts haben wir die Aufgabe, einen Begriff in sein Recht zu setzen, den konservatives Denken lange an den Rand politischer Zukunftsbeschreibung gedrückt hat: Fortschritt ist die Zentralkategorie der Aufklärung und, in ihrer Folge, der sozialen und demokratischen Bewegungen, die den Zugewinn an Wissen und Wohlstand nutzen wollen, um Freiheit für die größtmögliche Zahl von Menschen zu erreichen.
Das neue Grundsatzprogramm der SPD formuliert ein klares Bekenntnis zum Fortschritt. Unser „Hamburger Programm“ spart nicht mit scharfer Kritik an den globalen Tatsachen der sozialen Spaltung in Arm und Reich, der ökologischen Gefahren und der Gewalt. Vor allem aber zieht es daraus Konsequenzen. Wir schreiben das erste Programm einer deutschen Partei, das auf die Globalisierung nicht passiv reagiert, sondern eine aktive und zuversichtliche Gestaltungsperspektive entwickelt.

Konservative wecken immer wieder Angst vor dem Gang der Dinge – sei es vor dem sozialen Wandel, sei es vor den Gefährdungen des Alltags durch terroristische Bedrohungen. Angst ist aber kein guter Ratgeber. Verharrung löst kein Problem. Wir müssen aus der Analyse unserer Gegenwart die Mittel zu ihrer Veränderung gewinnen. Das ermöglicht realistische Zuversicht. Diese Zuversicht der Veränderung unterscheidet uns von redseligen Kulturpessimisten, die alles verwerfen und nichts verbessern, weil sie den Fortschritt per se für ein Unglück halten. Dazu muss gesagt sein, dass es darauf ankommt, die Welt nicht bloß zu beklagen, sondern zu verändern.

Progressive Parteien entstanden in allen Ländern, die sich aus autoritärer Herrschaft herausschälten. Sie gingen immer davon aus, dass falsche Tradition durchbrochen, dass Armut und Ausbeutung überwunden, dass soziale Einschüchterung mit religiösen oder ideologischen Mitteln, dass die Unterdrückung von Frauen, die Gewalt gegen Andersdenkende beendet werden kann und werden muss. Und sie wussten, dass emanzipierte Menschen in solidarischer Anstrengung eine bessere Gesellschaft gründen können.

Dieser Idee des Fortschritts ist zeit ihres Bestehens zweierlei widerfahren: Sie wurde maßlos mit Heilserwartungen aufgeladen, erst von Propagandisten, dann von Diktatoren missbraucht, und sie wurde andererseits wegen ihres Handlungshorizonts, der optimistisch über die Gegenwart hinausreicht, als gefährliche Utopie bekämpft. Beides hat dem politischen Selbstbewusstsein und der Argumentationskraft der Linken schwer geschadet. Wir können diese Kraft nur wiedergewinnen, wenn wir uns nicht von den Gegnern der Freiheit und der Gleichheit vorschreiben lassen, was Fortschritt bedeutet, sondern die Klärung dieses zentralen Leitbilds selbst in die Hand nehmen.

Ein akuter Fall ist die ökologische Frage. Das klassische soziale Ziel eines breiteren Massenwohlstands ist seit mehr als 30 Jahren dem Verdacht ausgesetzt, dass die ökologische Last des erforderlichen Wachstums unverantwortlich sei. Dieser kritische Impuls hatte sein Gutes. Er hat geholfen, die negativen Wirkungen der konventionellen Industriegesellschaft zu erkennen. Der verschwenderische Umgang mit natürlichen Ressourcen, deren Wert nicht durch entsprechende Preise abgebildet war, hat auch eine schwerwiegende Form des Marktversagens offen gelegt. Erst ein politisch durchgesetztes Regelwerk ist in der Lage, die tatsächlichen Kosten einer umweltschädlichen Produktionsweise dem Urheber anzulasten und damit in einen Wettbewerbsnachteil zu überführen. Erst ein ausgewogenes Instrumentarium steuerpolitischer pull– und investitionsfördernder push-Maßnahmen kann neue Anreize etablieren und Märkte qualitativ transformieren.

Diese vorausschauende Steuerungsleistung der Politik, die in den Markt gezielt eingreift – und zwar nicht um seine Anpassungsdynamik außer Kraft zu setzen, sondern um deren Richtung ökologisch neu zu justieren –, wird von kurzsichtigen Wirtschaftslobbyisten der alten Märkte massiv bekämpft. Sie hat aber neue Märkte heranwachsen lassen, deren Technologien die effiziente Nutzung von Ressourcen unterstützen und erneuerbare Energiequellen erschließen. Die daraus hervorgehenden Ingenieursprodukte haben an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert einen Reifegrad erreicht, der ihnen das Potenzial zivilisatorischer Schlüsseltechnologien gibt. Zu den historischen Leistungen des „Berliner Programms“ der SPD von 1989 gehört es, diesem ökologischen Umbau der Industriegesellschaft programmatischen Boden bereitet zu haben.

Die nachhaltige ökonomische Logik dieses Politikansatzes haben neoliberale Deregulierungsfanatiker ideologisch denunziert. Sogar von der „Ökodiktatur“ war die Rede. Aber auch die Kulturpessimisten der ökologischen Bewegung, die in der modernen Lebensweise die Wurzel allen Übels sahen, haben den Zukunftsgedanken des nachhaltigen Fortschritts nicht begriffen. So entstand eine Verkeilung, die politisch vollkommen unfruchtbar war. Es entfaltete sich eine Art Kulturkampf zwischen Ökologie und Ökonomie, in dem eine abwehrende Ökonomiefeindlichkeit zunehmend als linke Tugend oder, je nach Blickwinkel, Untugend galt. Kein Zweifel, die Kritik an unmenschlichen oder unkontrollierbaren Risikotechnologien – die scharfe Kontrolle von Massenvernichtungswaffen, der Ausstieg aus der Atomkraft – sind zentrale Punkte progressiver Programmatik. Technikskepsis als Lebenshaltung aber zieht aufrichtige Linke in das Fahrwasser eines gefühligen Konservatismus. Die Katastrophenstimmungen der späten siebziger und der achtziger Jahre haben sich ganzen Generationenbiografien eingeprägt.

Technik an sich ist weder gut noch schlecht

Dagegen hilft ein aufgeklärter Fortschrittsbegriff. Technik an sich ist weder gut noch schlecht. Deshalb braucht es ja die Urteilsfähigkeit der Politik, die der „schlechten“ Technik Schranken setzt und zugleich die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Potenziale menschenfreundlicher Technologien entfaltet. Wir sollten uns zutrauen, diese Unterscheidung zu treffen. Nicht jede Expansion technischer Machbarkeit bedeutet Fortschritt. Das ist wahr. Aber jeder soziale Fortschritt braucht in unserer Zeit die technologische Entwicklung. Wir sollten sie nach unseren Wertmaßstäben und frei von Angst gestalten. Wir müssen gewissermaßen das, was uns „Zukunft“ bedeutet, neu definieren: nicht mehr die Verlängerung problematischer Trends, sondern die Veränderung der Spielregeln mit dem Ziel eines nachhaltigen Fortschritts. „Zukunft“ nicht als das, was wir teilnahmslos über uns ergehen lassen müssen, sondern als Gestaltungsanspruch, als Möglichkeitsraum guter Politik – um diese Neubesinnung muss öffentlich gestritten werden, und zwar gerade auf dem Feld der ökologischen Frage.

Das Hamburger Programm der SPD antwortet auf den ökologischen Problemstau moderner Gesellschaften mit einer offensiven wirtschaftlichenEntwicklungsstrategie. In diesem Sinne sprechen wir von „strategischer“, von „ökologischer Industriepolitik“, von „neuer Wertschöpfung“. Denn als brotlose Kunst war Umweltbewusstsein schon viel zu lange bloß Debatte der saturierten intellektuellen Klassen oder der wohlhabenden Gesellschaftsschichten.

Darum ist die Masse der Arbeitnehmer dieser Idee nie gefolgt. Wer seine Politik nicht in harte Währung konvertieren kann, stößt auf taube Ohren bei denen, die Arbeit und Lohnzuwachs brauchen, weil sie den sozialen Aufstieg noch vor sich haben. Wer beispielsweise in Ostdeutschland vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit den Wachstumsverzicht predigt, läuft vor die Wand. Aber zugleich gehört Umwelttechnologie Made in East-Germany zu den größten Erfolgsgeschichten der neuen Länder – ökonomisch durch innovatorische Wertschöpfung, sozial durch gute Arbeit, ökologisch durch das Angebot eben jener Investitionsgüter und technischen Dienstleistungen, die etwa die Energiewende erst ermöglichen.

Der Klimawandel führt uns ebenso wie die riskante Ölpreisentwicklung die Grenzen der fossil befeuerten Industriegesellschaft vor Augen. Die „grünen Märkte“ wachsen in die Rolle von Wohlstandsträgern. Und sie befreien die Umweltpolitik aus einer kontraproduktiven Wirtschaftsfeindlichkeit, die es der strukturkonservativen Industrielobby immer leicht gemacht hat, die Arbeitnehmer ihrer Branchen gegen den ökologischen Fortschritt in Stellung zu bringen. Der Klimawandel wirkt sich auch politisch aus. Er ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und wird überall verstanden. Das vermehrt die Chancen, den Klimaschutz zu einer „großen Strategie“ des wirtschaftlichen Wandels auszubauen, und es schadet gar nichts, nutzt vielmehr der Sache, dies mit der traditionellen Außenhandelsstärke unseres Landes zu verbinden. Denn wo wenn nicht hier kann deutsche Ingenieurskunst weltweit der nachhaltigen Entwicklung voranhelfen?

Für Millionen endet der Traum vom Wohlstand in neuer Armut

Zu den Problemen globaler Reichweite zählt die urbane Wende unserer Zeit. Zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte leben weltweit mehr Menschen in den Städten als auf dem Land. Die Ungleichheit der Lebenschancen zieht Menschen in großer Zahl in die Ballungsräume, immer auf der Suche nach Wohlstand. Nie zuvor konnten so viele von ihnen Zugang zu Bildung bekommen, neue Berufe erlernen und ihr Einkommen verbessern. Für Millionen andere aber endet der Traum vom Wohlstand in neuer Armut. In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern führt der Zustrom in die Metropolen zur Überlastung sämtlicher öffentlicher Infrastrukturen. Es wachsen die Armenquartiere und die Schattenwirtschaft mit ihren Kleingewerben, geringfügigen Dienstleistungen und ungesicherten Beschäftigungen. Auch die großen Städte in den entwickelten Ländern, auch Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, erleben eine Migration, die sie vor enorme soziale Herausforderungen stellt. Gerade die Integration von Einwanderern aus anderen Teilen der Welt, denen der Weg in den Beruf aufgrund sprachlicher und kultureller Anpassungserfordernisse schwer fällt, ist heute eine politische Aufgabe ersten Ranges.

Die globale Urbanisierung geht mit sozialen Umbrüchen und Gegensätzen, mit einem ungekannten Reichtum ebenso wie mit einer städtischen Schicht von Deklassierten und Abgehängten einher. Diese Widersprüche sind Teil der Globalisierung der Märkte. Vor allem in den Ballungsräumen der Entwicklungsländer existieren im scharfen Kontrast zueinander weltmarktfähige Produktions- und Handelsstrukturen und eine informelle lokale Ökonomie, die kaum Anschluss an die Wohlstandsentwicklung findet. Doch sind diese Sozialkonflikte nicht so weit weg, wie wir glauben. Gerade hier zeigt sich, was wir im Hamburger Programm „das erste wirklich globale Jahrhundert“ nennen.

Die neue Nähe zwischen Nord und Süd lässt sich anschaulich machen am Aufkommen der großen Discountmärkte in den Vereinigten Staaten und Europa. Der Slogan „Geiz ist geil“, also die Billigpreisstrategie für durchaus hochwertige Produkte, ist möglich geworden durch ein globalisiertes Beschaffungsnetzwerk. Die Lieferanten konkurrieren nicht mehr nur in einer Region oder in einem Land miteinander, denn die Einkäufer der großen Einzelhändler gehen weltweit auf die Suche nach dem billigsten Geschäftspartner. Das setzt das produzierende Gewerbe auch in Deutschland unter einen Kostendruck, den es durch Auslagerung von Betriebsteilen, durch niedrige Löhne, schlechtere Arbeitsverträge oder durch die Verlagerung von Produktionsstätten in Niedriglohnländer auszugleichen versucht.

Angetrieben und beschleunigt wird der internationale Kostenwettbewerb durch globale Kapitalbewegungen, die weder technische noch politische Fesseln kennen. Das Internet hat den Pulsschlag der Finanztransaktionen erhöht. Der Tendenz nach ist Kapital für Unternehmensinvestitionen überall und jederzeit verfügbar, aber auch überall und jederzeit entziehbar. Die Zeiträume, in denen Geldgeber ihre Rendite erwarten, haben sich verkürzt. Die Macht, die Finanzinvestoren auf die Entscheidungen der Unternehmen ausüben können, ist stark gewachsen. Das kann zu mehr Effizienz im Betrieb führen. Doch die Höhe der erwarteten Renditen ist durch ein normales Unternehmenswachstum, durch neue Ideen und Produkte, durch die Erschließung von Märkten, kaum zu erfüllen. Also verschärft sich der Druck, die „Arbeitskosten“ zu senken, Lohnkürzungen durchzusetzen und Mitarbeiter zu entlassen.

Die wirtschaftsliberale Standardreaktion auf diese Prozesse ist in Deutschland die Forderung nach Anpassung. Vor allem die Durchsetzung eines flächendeckenden Niedriglohnsektors, der sich immer weiter sogar auf qualifizierte Facharbeit erstreckt, oder die Abwicklung des gesetzlichen Kündigungsschutzes gehören zur marktradikalen Programmatik. Die Polemik gegen Solidarität und Sozialstaat galt lange Zeit geradezu als Maßstab der Modernisierung. Viele verunsicherte Menschen halten die kalten Modernisierer für typische Vertreter einer auf Veränderung und Reform zielenden Politik. Der Reflex darauf ist Reformverweigerung. Wie bei der ökologischen so haben sich auch bei der sozialen Frage zu viele überzeugte Linke von einer defensiven und letztlich konservativen Grundemotion anstecken lassen.

Wir spielen nicht mehr auf Abwehr

Das Hamburger Programm der SPD entwirft auch hier einen Strategiewechsel. Punkt eins ist der Sozialstaat. Wir spielen nicht mehr auf Abwehr. Fortschritt heißt, den Sozialstaat besser zu machen, menschlicher und individueller in seiner institutionellen Architektur, zielgenauer und wirksamer in seinen Hilfsangeboten, gerechter in seiner Finanzierung. Der vorsorgende Sozialstaat des Hamburger Programms will mehr als Nothilfe und Schadensbewältigung durch anonyme Bürokratien. Der vorsorgende Sozialstaat hat seinen Ort in den Kommunen, denn er baut die Kindergärten und beschäftigt die Betreuerinnen und Betreuer, die früh die Talente fördern und Chancengleichheit ermöglichen. Er investiert in soziale Dienstleistungen wie Eltern-Kind-Zentren oder Sprachförderung für Einwanderer. So kann die soziale Stadt entstehen, die der ethnischen Spaltung entgegenwirkt.

Der vorsorgende Sozialstaat unterstützt die Menschen beim Zugang zu guter Arbeit. Er verbessert die Vermittlung von Arbeitslosen, eröffnet individuelle Chancen, sorgt dafür, dass die Arbeitsvermittler sich mehr um den Einzelfall bemühen können – so wie es uns andere Länder vormachen. Er legt größeren Wert auf Qualifizierung, und zwar schon bevor Arbeitslosigkeit eintritt. Er finanziert Brücken für den unausweichlichen Wechsel des Arbeitsplatzes im Laufe einer Erwerbsbiografie. Vorsorgende Sozialpolitik antwortet auf den demografischen Wandel, indem sie die Beschäftigungsfähigkeit Älterer erhält und entwickelt. Durch Gesundheitsvorsorge verbessert sie soziale Sicherheit und Selbstbestimmung bis ins Alter.

Der vorsorgende Sozialstaat will die Bürgerversicherung, die allen bestmögliche medizinische Versorgung zugänglich macht und alle ihrem Leistungsvermögen gemäß an der Finanzierung beteiligt. Unsere Idee des Sozialstaates achtet auf besondere Härten und Lebenslagen. Wir wollen, dass die Menschen länger im Beruf bleiben. Wem aber nach Jahrzehnten harter Arbeit an einem körperlich oder psychisch hoch belastenden Arbeitsplatz die Kräfte ausgehen, findet einen flexiblen und gesicherten Weg in den Ruhestand. Wir wollen vor allem den Schritt aus der Arbeitslosigkeit in neue Arbeit fördern. Solange aber besonders für ältere Arbeitslose noch nicht genügend Arbeitsangebote vorhanden sind, achten wir auch auf eine faire Absicherung, die die Lebensleistung der Menschen anerkennt. Der vorsorgende Sozialstaat ist für die Menschen da. Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, dass sie in einer dynamischen Arbeitswelt an der Wohlstandsentwicklung beteiligt sind. Weil dieser Sozialstaat Sicherheit im Wandel ermöglicht, die gesellschaftlichen Netze der Verbundenheit stärkt, in bessere Bildung investiert und soziale Dienstleistungen aufbaut, leistet er zugleich einen immer wichtigeren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung.

Punkt zwei sind bessere und wirksamere Regeln – national und international – für gute Arbeit. Seit jeher ist die Humanisierung der Arbeitswelt ein Hauptanliegen der sozialdemokratischen Fortschrittsidee. Dies war immer und ist heute nicht minder eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung, bei der auch die Machtfrage gestellt ist. Auch hier gilt: Nichts kommt von selbst, jeder Fortschritt muss demokratisch erstritten werden. Das Leitbild des Hamburger Programms ist Arbeit, die gerecht entlohnt wird, Anerkennung bietet, nicht krank macht, die erworbene Qualifikationen nutzt und ausbaut, demokratische Teilhabe garantiert und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht.

Offene Märkte brauchen verpflichtende Regeln

Der Kampf um den Mindestlohn macht exemplarisch deutlich, dass wir neben starken Gewerkschaften auch politische Mehrheiten brauchen, um Regeln für gute Arbeit durchzusetzen. Wo Verhandlungen der Tarifpartner nicht ausreichen oder gar nicht erst greifen können, weil Wirtschaftsbranchen durch Tarifverträge nicht mehr erfasst sind, müssen wir durch gesetzliche Mindeststandards für Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt sorgen. Gegen das Umsichgreifen von Armutslöhnen wollen wir den gesetzlichen Mindestlohn durchsetzen. Offene Märkte, auch das zeigt die Lohnfrage, brauchen verpflichtende Regeln, die nicht zu unterlaufen sind.

Für dieses Ziel der Wiedergewinnung demokratischer Gestaltungsmacht müssen wir heute auch auf internationaler Ebene streiten. Mehr als alle anderen Dimensionen der wirtschaftlichen Globalisierung führen uns die Kapitalmärkte den dringenden Bedarf an gemeinsamen Regeln vor Augen. Um die verlorene Augenhöhe von Kapital und Arbeit zurück zu gewinnen, müssen wir die Mitbestimmung stärken. Bei Unternehmensübernahmen oder riskanten Finanzierungsstrategien müssen die Arbeitnehmer eine Stimme haben. Dazu gehört die Weiterentwicklung der Mitbestimmung auf europäischer Ebene. Die politische Auseinandersetzung um die internationale Regulierung der Kapitalmärkte muss geführt werden: Transparenz der Kapitalmarktprodukte und Finanzinvestoren, Begünstigung von langfristigen Investitionen, die Innovationen fördern – diese und andere Ziele können wir erreichen.

Das Hamburger Programm der Sozialdemokratie beschreibt eine europäische Idee des Fortschritts. Die Globalisierung, das ist seit dem Fall der Mauer im Jahr 1989 immer klarer geworden, kann sehr unterschiedliche Wege einschlagen. Keiner ist alternativlos. Wir stellen neu zur Diskussion, auf welchem Weg der Mensch seine Freiheit erweitert. Die Privatisierung der Lebensrisiken von Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Alter ist die eine Möglichkeit. Unternehmerische Gewinne und individuelle Einkommen sollen vom sozialen Ausgleich entpflichtet werden. Die Anhänger dieses Weges versprechen immer wieder enorme ökonomische Effizienzzuwächse. Sie berechnen dabei weder die öffentlichen Kosten einer desolaten, vor allem in den städtischen Ballungsräumen destabilisierten Gesellschaft, noch kalkulieren sie den ausbleibenden Wohlstandsgewinn aufgrund mangelnder Investitionen in Gesundheit und Bildung der Menschen.

Die solidarisch organisierte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

Wir sehen diesen Weg der radikalen Privatisierung als Gefahr, denn er unterhöhlt die Prinzipien der Demokratie, die immer wieder neu die umfassende politische und wirtschaftliche Teilhabe der Menschen durch gleiche Chancen und gleiche Rechte anstrebt. Wo das Recht der Stärkeren die Rechtlosigkeit der Unterlegenen zur Folge hat, wo die soziale Ungleichheit unüberwindlich wird, geht der öffentliche Raum der Freiheit verloren. Das lässt sich in jedem Elendsquartier und in jedem abgeschlossenen Reichenviertel dieser Welt beobachten.

Eine Gesellschaft der Freien und Gleichen aber braucht das zwischenmenschliche Vertrauen, die wechselseitige Anerkennung und Solidarität. Sie braucht die politischen Institutionen und die sozialen Netzwerke der Solidarität. Sie hält die Märkte für den produktiven Wettbewerb offen, aber sie verpflichtet das Kapital auf einen angemessen Beitrag zur Finanzierung eines handlungsfähigen Staates. Denn auch der Wohlstand ist auf Dauer auf eine stabile Rechtsordnung und auf ein hohes Maß an sozialen Investitionen gegründet.

Wir erleben eine Zeit, in der das Wissen der Menschen, ihre Fähigkeit zu Kommunikation und Kooperation die wirtschaftliche Wertschöpfung bestimmen. Von der menschlichen Kreativität in der Entwicklung, Anwendung und Verbreitung neuer Technologien hängt nicht zuletzt die Bewältigung der ökologischen Risiken dieser Zeit ab. Wir beginnen ein Jahrhundert der Migration, in dem Millionen weltweit in die Städte strömen und die Grenzen zwischen Ländern und Kontinenten überwinden, auf der Suche nach Wohlstand und Glück.

In diesem 21. Jahrhundert brauchen wir wie nie zuvor die soziale Infrastruktur und die Dienstleistungen von Menschen für Menschen, um Bildung, Weiterbildung, Gesundheitsvorsorge, soziale Sicherheit und Integration zu ermöglichen. Es ist unerheblich, ob man das als Gebot der Sozialmoral begründet, als Erfordernis der Inneren Sicherheit oder als Bedingung wirtschaftlicher Prosperität. Die europäische Idee des Fortschritts wählt den Weg der solidarisch organisierten Gesellschaft, der ökologischen Moderne und des qualitativen Wirtschaftswachstums. Das ist der Weg der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.