„Dinosaurier und Twipsy“ in: Berliner Republik (2000), Heft 2

Seit Dezember 1999 ist er Deutschlands jüngster Ministerpräsident: Der vierzigjährige Sozialdemokrat Sigmar Gabriel folgte als niedersächsischer Regierungschef dem zurückgetretenen Gerhard Glogowski. Am Rande der weltgrößten Computermesse CeBit in Hannover sprach der Bundestagsabgeordnete HUBERTUS HEIL mit Gabriel über Deutschlands Weg in die digitale Ökonomie.


Auf dieser Messe ist viel von der Dynamik und Beschleunigung zu spüren, die die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien offenbar für unsere Gesellschaft mit sich bringen. Was ergibt sich daraus für die Politik?

Ich habe oftmals den Eindruck, wenn Politiker hier auf die CeBit kommen und sich mit Unternehmern aus diesen neuen Wirtschaftsbereichen treffen, dann trifft Dinosaurier auf Twipsy. Die Politik diskutiert über Ladenschlusszeiten – diese Unternehmer über E-Commerce. Wir Politiker beklagen die Massenarbeitslosigkeit – diese Unternehmer suchen händeringend tausende von Fachkräften. Tatsache ist, dass sich unsere Strukturen durch diese Technologie, die im übrigen ja auch Inhalte transportiert, dramatisch ändern werden. Die Herausforderung ist, dieser Entwicklung einen politischen und rechtlichen Rahmen zu geben, der unsere tradierten Strukturen beispielsweise im Steuerrecht darauf neu einstellt. Die vordringlichste Aufgabe sehe ich im Moment darin, Qualifikationen herzustellen, damit diese Technologien in Deutschland auch Einsatz finden. Dabei müssen wir auf die wichtigste Ressource setzen, die wir haben, nämlich Bildung.

Müssen nicht gerade die Sozialdemokraten vor diesem Hintergrund neue Antworten geben?

Dies ist für die SPD insofern eine neue Herausforderung, als hier etwas entsteht, was weit entfernt ist von unserem klassischen Staatsverständnis. Durch die neuen Technologien werden, trotz aller bestehenden Risiken, erst einmal die individuellen Möglichkeiten enorm gesteigert. Das steht im Widerspruch zu dem früher sehr verbreiteten etatistischen Politikverständnis der Sozialdemokratie. Die programmatische Aufgabe für uns heißt also, auf einen Nenner gebracht: Wir müssen das „Loslassen“ lernen. Ich finde bei allen Befürchtungen, dass die Chancen, die in diesen neuen Technologien liegen, die Risiken bei weitem überwiegen. In dieser ganzen Entwicklung ist eine enorme Dynamik und eine ungeheuere Kreativität. Allerdings habe ich dabei eine Sorge. Ich glaube nicht, dass die Technik an sich die Gefahr ist und auch nicht die Geschwindigkeit, in der sie sich entwickelt, sondern die Ungleichzeitigkeit, in der diese Entwicklungen vor sich gehen. Veränderungen geschehen nicht mehr im Takt der Generationen, sondern ein Jahr scheint im Internet in drei Monaten zu vergehen. Wer hier zukünftig nicht mithält, versteht dann im wahrsten Sinne des Wortes die Welt nicht mehr. Dabei ergibt sich eine neue Spaltung der Gesellschaft in den einen Teil, der mit 50 digitalen Fernsehkanälen aufwächst, und den anderen Teil, der sich von dieser Entwicklung eher bedroht fühlt. Interessanterweise sind es gerade die, die in der Mitte des Berufslebens stehen, die dort Sorgen haben. Einen großen Boom erleben wir beim Internet heute interessanterweise auch unter Rentnern. Es gibt Senioren, die diese neuen Möglichkeiten für sich ebenso nutzen, wie das bei vielen jungen Leuten selbstverständlich ist. Doch gerade in der Mitte der Gesellschaft gibt es viele, die zwar wissen, dass sie diese neuen Technologien in ihrem Beruf künftig stärker brauchen, die sich den Umgang damit aber bisher noch nicht so recht zutrauen. Für die SPD, aber auch für alle, die in der Wirtschaft soziale Verantwortung tragen, ergibt sich daraus die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich aus dieser Entwicklung keine Gesellschaft ergibt, die in User auf der einen und Loser auf der anderen Seite zerfällt. Das heißt konkret, dass wir die Menschen in dieser Entwicklung mitnehmen und die Voraussetzung für lebenslanges Lernen schaffen müssen.
Wenn man heute Begriffe wie „Ordnungsrahmen schaffen“ und „Ungleichzeitigkeiten“ hört, drängt sich ein aktuelles Thema auf: Wie ist die Ankündigung von Bundeskanzler Gerhard Schröder bei der Eröffnung der CeBit zu bewerten, angesichts des deutschen Fachkräftemangels im Informations- und Kommunikationsbereich für ausländische Spezialisten so etwas wie eine „Greencard“ zu schaffen, ihnen also Beschäftigungs- und Aufenthaltsmöglichkeiten in Deutschland zu schaffen?

Ich bin sehr dafür in diesem Zusammenhang beide Aussagen zur Kenntnis zu nehmen, die Gerhard Schröder in seiner Rede bei der CeBit-Eröffnung gemacht hat. Er sagte zum einen, dass wir in Deutschland ein Qualifikationsdefizit haben, das wir aufholen müssen. Wir müssen die vielen Menschen, die in Deutschland offenbar fehlqualifiziert sind, die zum Beispiel als Bauingenieure keine Beschäftigung finden, so weiterqualifizieren, dass sie als Ingenieure im IT-Bereich eine Chance haben. Für den Zeitraum, in dem wir diese Menschen qualifizieren müssen, sind wir zum zweiten bereit und in der Lage Menschen in unser Land zu holen, die uns helfen, diese Zeit zu überbrücken. So gedacht, schafft dieses Vorgehen zusätzliche Arbeitsplätze in Deutschland. Wenn wir das nicht machen, sondern nur auf Qualifizierungsanstrengungen in Deutschland setzen, haben wir ein Loch von vier bis fünf Jahren, was wiederum dazu führt, dass ein großer Teil der Entwicklung an uns vorbei läuft. Ich war gerade in den USA und habe dort beobachten können, dass unter den Studenten der postgradualen Studiengänge, also bei denjenigen, die schon im Job sind, aber für weiterestraining on the job an die Hochschulen zurückkehren, sehr viele Asiaten sind. Wenn diese Leute in ihre heimatlichen Firmen zurück gehen, behalten sie eine starke Ausrichtung auf die USA, was auch für zukünftiges Wirtschaften von Bedeutung ist. Wir denken da in Mitteleuropa zur Zeit noch viel zu statisch. Wir müssen einfach begreifen, dass in einer globalisierten Welt auch der Austausch von Qualifikationen eine Rolle spielt. Die Amerikaner haben das schon begriffen. Wir arbeiten noch daran.

Wenn man sich hier auf der CeBit umtut, trifft man bei den Ausstellern viele junge Existenzgründer. Trotzdem ist die Selbständigen-Quote in Deutschland mit etwa 10 Prozent weit unter dem europäischen Schnitt von 15 Prozent. Was muss die deutsche Politik unternehmen, damit es mehr Unternehmen, mehr Selbständige gibt?

Wir in Niedersachsen sind da auf einem ganz guten Weg. Wir haben im letzten Jahr 13.500 Gewerbeanmeldungen mehr als Abmeldungen gehabt. Wir haben also schon viel aufgeholt, liegen aber als Bundesland mit 9,7 Prozent auch noch unter dem Bundesschnitt von 10,4 Prozent. Was wir machen müssen ist, potentiellen Existenzgründern mehr Beratung zur Verfügung zu stellen. Dies machen wir über Beratungsnetzwerke. Wir müssen ihnen vor allem Venture Capital zugänglich machen. Davon gibt es genug im Hochrenditebereich, aber im Niedrigrenditebereich entsprechend wenig. Wir überlegen deshalb, ob wir hier in Niedersachsen eine Wagniskapitalgesellschaft gründen. Neben diesen beiden wichtigen Voraussetzungen müssen wir vor allem die Betriebsübernahmen im Handwerk fördern.

Politiker aller Parteien erklären den Menschen heutzutage angesichts der neuen Technologien und der wirtschaftlichen Globalisierung, dass man, um zu bestehen, immer flexibler und mobiler zu sein hat und nicht mehr mit geschlossenen Erwerbsbiographien rechnen kann. Was sagt man einem jungen Familienvater Anfang 30, der beispielsweise bei VW arbeitet, auf dem Land lebt, sich gerade ein Häuschen gebaut hat, und der keine Lust hat, flexibel und mobil zu sein?

Ich finde, wir dürfen nicht so tun, also ob es nur die eine Entwicklung gäbe. Natürlich wird VW beispielsweise auch künftig für Zig-Tausende von Menschen dauerhafte Arbeitsplätze bieten. Natürlich gibt es auch künftig das mittelständische Unternehmen um die Ecke, das heimatnah und ortsverbunden ist, und das in Niedersachsen die Masse der Arbeitsplätze stellt. 80 Prozent unserer Betriebe haben weniger als zehn Beschäftigte. Aber man muss natürlich auch sagen: Wer wirtschaftlichen Erfolg für sich selbst will, und wer auf Dauer im Berufsleben verbleiben will, der muss wissen, dass er sich lebenslang qualifizieren muss. Diese Wahrheit muss man einfach zur Kenntnis nehmen. Dazu gehört, dass man im Zweifelsfall auch bereit sein muss, den Ort zu verlassen. Wer das nicht will, hat ein eingeschränkteres Angebot als diejenigen, die bereit sind, für eine gewisse Zeit auch einmal woanders hin zu gehen. Wir erleben ja auch, dass viele wieder an angestammte Orte zurückkehren. Natürlich ist der Arbeitsmarkt beweglicher geworden, als er es vor zwanzig Jahren war. Ich glaube, dass das Weggehen an einen anderen Ort in erster Linie immer eine Chance für Menschen ist, etwas Neues kennen zu lernen. Aber um es nochmals zu sagen: Es wird auch künftig Tausende von heimatnahen Arbeitsplätzen geben.

Kannst Du etwas mit dem Begriff „Berliner Republik“ anfangen?

Nein.

Handelt es sich aus Deiner Sicht also um eine aufgebauschte Debatte, wenn in vielen Feuilletons so heftig um diesen Begriff gerungen wird?

Für mich ja. Es ist eine Debatte, die Politiker vielleicht mehr bewegt, als andere Menschen. Was die Menschen aber merken, ist, dass Berlin eine tolle, eine dynamische Stadt ist, die zu Recht Hauptstadt ist. Berlin hat an Faszination gewonnen. Übrigens glaube ich, dass dies international mehr wahrgenommen wird, als wir das selbst merken. Aber ob nun „Berliner Republik“ oder „Bonner Republik“ – ich find es erst einmal gut, dass wir überhaupt eine Republik sind. Ich wäre schon damit zufrieden, wenn die Tatsache, dass wir ein freiheitlicher und republikanischer und sozialer Rechtsstaat sind, in den Köpfen und Herzen der Menschen ist. Wenn man das dann mit Berlin verbindet, ist es auch in Ordnung. Man kann und sollte es aber auch mit jedem anderen Ort in Deutschland in Verbindung bringen können.